Verbotene Sehnsucht
Tochter– sie musste also heute Abend in großzügiger Stimmung sein.
Sarah hob die Röcke samt zugehörigen Unterröcken, streckte abwechselnd den rechten und linken Fuß vor und wackelte damit.
» Und meine Schuhe sind ebenfalls himmlisch, findest du nicht?« Seit letzter Woche war einfach alles nur noch » himmlisch«, und Sarah gebrauchte das Wort so ausgiebig, dass es allen anderen schon zu den Ohren herauskam. Wenn sie ein Stück Kuchen aß, der ihr schmeckte, war es » himmlisch«, genau wie das Retikül im Schaufenster eines Warenhauses oder andere Dinge, die sie sich wünschte.
Mit der überlegenen Geduld einer älteren Schwester bewunderte Missy jetzt die pinkfarbenen, absatzlosen Schuhe aus geprägtem Ziegenleder und nickte bestätigend.
Sarah strahlte. Dann schien sie zum ersten Mal Missys Kleid zu bemerken und riss die Augen weit auf. » Hat Mama dein Kleid schon gesehen?«, flüsterte sie schockiert.
» Natürlich. Schließlich hat sie es selbst ausgesucht.« Missy klang zwar selbstbewusst, aber ihr Herz begann ängstlich zu pochen. Ja, richtig, die Mutter hatte das Kleid ausgesucht, doch Beatrice war es, die den Ausschnitt vergrößerte, wenn auch nur ein kleines Stück.
Missy schaute an dem lavendelfarbenen Satinkleid hinunter und musterte es mit kritischem Blick. Der obere Teil ihrer Brüste war gut sichtbar, nach oben gedrückt durch das enge Mieder. Na und? Sie fand es genau richtig, weder zu viel noch zu wenig und der neuesten Mode entsprechend. Hatte sie nicht schon auf diversen Gesellschaften ehrbare junge Ladys mit einem viel gewagteren Dekolleté gesehen?
Sie warf Sarah und Emily einen entschlossenen Blick zu und drehte sich wieder zum Spiegel, strich nicht vorhandene Falten aus dem Rock und bändigte ihre Haarfülle mit einem Elfenbeinkamm.
Emily lächelte verschwörerisch. » James ist heute Abend auch da.«
» Und?«, sagte sie, obwohl ihr bei dem Namen eine Hitzewelle durch den Körper flutete.
» Nichts. Ich dachte nur, ich sollte es erwähnen.« In Emilys grünen Augen glitzerte es erwartungsvoll, bevor sie sich abwandte und elegant aus dem Zimmer schwebte, als gäbe es dazu weiter nichts zu sagen. Sarah folgte ihr dicht auf den Fersen.
Missy wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Spiegelbild zu und drückte die Hand leicht an den Hals, um ihren rasenden Puls zu beruhigen.
Es ist doch nur ein kleines Abendessen im Kreis der Familie, beschwor sie sich wieder, bevor sie nach einem letzten Blick in den Spiegel das Zimmer verließ und sich auf den Weg ins Erdgeschoss machte, wo ihre Mutter und die Schwestern bereits warteten und sich mit Thomas unterhielten, der in seinem dunkelblauen Jackett, der Weste, der blauen Hose und dem fachmännisch geknüpften weißen Halstuch ungewöhnlich elegant aussah, während er sonst eher zweckmäßig gekleidet herumlief. Das blonde Haar akkurat aus dem Gesicht gekämmt, wirkte er wie eine jüngere männliche Ausgabe seiner Mutter, der auch Emily und Sarah nachschlugen. Nur sie sah mit ihren dunklen Haaren und den graublauen Augen in dieser blonden, grünäugigen Familie wie ein Wechselbalg aus.
Thomas stieß einen leisen Pfiff aus, als er Missy erblickte. » Wie ich sehe, muss ich heute Abend wohl noch meinen Degen schärfen und die Pistolen reinigen.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
Missy lächelte über seinen Spott, während sie gleichzeitig ängstlich hinüber zu ihrer Mutter schielte, einen ruhigen, aber entschiedenen Tadel erwartend. Doch nichts dergleichen geschah.
» Millicent, du siehst bezaubernd aus.«
Missy kniff zweimal kurz hintereinander die Augen zusammen. Wie bitte? Sie kassierte keine Mahnung, weil sie ihr Kleid eigenmächtig hatte abändern lassen? Vielleicht war der Ausschnitt gar nicht so tief gerutscht, wie sie dachte. » Danke, Mama«, meinte sie erleichtert.
» Alle meine Töchter sehen heute Abend bezaubernd aus.« Gleiches galt für die Viscountess selbst, die ein Abendkleid aus violettem Taft mit züchtigem Ausschnitt trug und stolz ihre Mädchen betrachtete. Besonders Sarah strahlte beim Lob ihrer Mutter und blühte auf wie eine Blume im warmen Licht der Sonne.
Es klopfte. Sekunden später hörte Missy James’ tiefen Bariton– und eine weibliche Stimme. Soweit ihr bekannt war, hatte ihre Mutter außer James, Alex und Claire niemanden eingeladen; ihre Freundin musste wegen einer anderen Einladung ablehnen, und Alex war nach Yorkshire bestellt worden.
Der Blick auf den Eingang wurde zwar durch
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