Verbotene Sehnsucht
Eine Einladung der Viscountess entsprach ungefähr einem königlichen Befehl.
» Im Übrigen ist deine Abwesenheit in der vergangenen Woche nicht unbemerkt geblieben, und darüber hinaus musste ich mir geschlagene zehn Minuten lang Lady Melvins Klagen darüber anhören, dass du es niemals zu ihren Soireen zu schaffen scheinst.«
James stöhnte auf. » Ein Junggeselle weniger für die zwei Töchter, die sie so dringend unter die Haube bringen will. Ja, ich kann mir vorstellen, dass sie vollkommen verzweifelt ist.«
» Und da Lady Victoria zufällig auch nicht erschien, waren Klatsch und Tratsch nicht mehr zu bremsen. Scheint so, als hättest du sie im Hyde Park umherkutschiert. Ein paar Tage später seid ihr dann beide Lady Melvins Einladung ferngeblieben. Dabei hatte sie auf eurem Kommen ausdrücklich bestanden.« Das Lächeln auf Armstrongs Gesicht ließ keinen Zweifel, dass er diebische Freude dabei empfand, ihm diese Neuigkeiten unterzujubeln.
» Lass die Leute reden«, gab James zurück und schaute weg.
Thomas neigte den Kopf. » Soll ich dem Geschwätz irgendwelchen Glauben schenken?«
» Mach dich nicht lächerlich.«
» Nein, ich glaube, nicht einmal dir würde es gelingen, diese eisige Jungfrau aufzutauen. Trotzdem: Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass du unter derselben Krankheit leidest wie Clifton. Seit einigen Tagen bist du wirklich ungesellig und benimmst dich wie ein Kind, dem man sein liebstes Spielzeug genommen hat.«
Im Bruchteil einer Sekunde erkannte James, dass es gleichgültig war, was er darauf erwiderte, denn jede Antwort würde die Fantasie seines Freundes beflügeln. Also entschied er sich für das, was am klügsten schien: Er wechselte das Thema.
» Wird Cartwright auch zum Dinner erwartet?« Da die Abendessen bei Thomas’ Mutter üblicherweise im vertrauten Kreis von Familie und den engsten Freunden stattfanden, hoffte er auf Alex’ Verstärkung.
» Sein herzoglicher Papa hat ihn nach Yorkshire zurückbefohlen«, erwiderte Armstrong.
James riss die Brauen hoch. » Es ist schon eine ganze Weile her, dass er sich für ihn interessiert hat.« Cartwrights Vater, der Duke of Hastings, nahm wenig Anteil am Leben seines jüngeren Sohnes. Obwohl der Freund nicht darüber sprach, war ihnen klar, dass sich die beiden seit Jahren einander entfremdet hatten.
Armstrong zuckte die Schultern. » Ich nehme an, dass er irgendwann nächste Woche zurückkehren wird. Er hat eine neue Geliebte und will mit ihr zum Derby. Auf jeden Fall ist deine Anwesenheit unerlässlich. Ich werde meiner Mutter sagen, dass du in Begleitung auftauchen wirst. Und um Missys willen kann ich nur hoffen, dass die Dame so umwerfend ist wie noch nie eine zuvor.«
» Ich will sie auf keinen Fall verletzen«, brummte James. Du lieber Himmel, im Moment fiel es ihm schwer genug, seinem Freund in die Augen zu schauen, denn zu quälend nagte das schlechte Gewissen an ihm. Aber andererseits hatte Thomas ihn schließlich beauftragt, ihr das Herz zu brechen.
» Meinst du nicht, dass es noch grausamer wäre, du ließest sie weitere zehn Jahre schmoren, weil sie immer noch hofft, dich zu kriegen? Glaub mir, Rutherford, es geschieht nicht aus Grausamkeit, sondern aus Liebe.«
James verfiel in Schweigen. Seltsam, wie er sich wegen einer Sache, die angeblich nur aus Liebe geschah, so elend fühlen konnte.
Es ist nur ein kleines Abendessen im Kreis der Familie, mahnte Missy sich zum hundertsten Mal. Seit Beatrice vor zehn Minuten gegangen war, hatte sie wieder und wieder ihre Frisur im Spiegel überprüft.
Wie üblich hielten Emily und Sarah es nicht für nötig zu klopfen, steckten den Kopf ins Schlafzimmer und tänzelten mit der lebhaften Aufdringlichkeit junger Mädchen ungebeten herein.
» Mein Kleid ist einfach himmlisch, findest du nicht?« Sarah wirbelte zweimal herum und hob sich mit der Leichtigkeit einer Ballerina auf die Zehenspitzen. Die Kreation aus weicher rosafarbener Seide und Satin war tatsächlich hübsch mit dem geraden Ausschnitt und nicht weniger als vier Volants; Emily hingegen präsentierte sich stolz in einem mit Perlen bestickten cremefarbenen Kleid.
» Ihr seht beide sehr hübsch aus«, lobte Missy und meinte es auch so. Beide hatten ihr blondes Haar hochgesteckt bis auf ein paar lange Locken, die ihnen auf die Schultern fielen, und besonders Sarah wirkte plötzlich gar nicht mehr kindlich. Normalerweise erlaubte die Viscountess eine solche Aufmachung nicht für ihre jüngste
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