Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
machten sich Elizabeth und Sally auf den Weg zum Fleet Prison. Elizabeth war dankbar, daß die Freundin sie begleitete, denn es grauste sie, das schreckliche Gefängnis betreten zu müssen. Schon früher war sie manchmal an dem gewaltigen, alten Steinbau vorübergegangen und hatte schaudernd auf das Geschrei und Gegröle von innen gelauscht und voller Entsetzen an die vielen Gefangenen gedacht, die tief im Keller in dunklen Verliesen schmachteten. Auch heute bot das Gemäuer trotz des blauen Himmels und der strahlenden Sonne den gleichen trostlosen Anblick. Durch ein Gitter konnten sie in den Hof sehen, auf dem viele Gefangene herumliefen, mit einem Ball spielten oder auf den warmen Steinen in der Sonne lagen. Viele von ihnen waren recht gut gekleidet und machten eher den Eindruck, sich in einem eleganten Etablissement aufzuhalten als in einem Kerker. Doch jeder Londoner wußte, daß dieses Bild trog. Die Gefängniswärter ließen sich für alles, was sie taten, bezahlen, und wer Geld besaß, konnte sich so ungeheure Vergünstigungen erkaufen, daß ein Aufenthalt an dieser Stätte einem einzigen lustigen Abenteuer glich. Tagsüber durfte er sich auf dem Hof amüsieren, abends bei gutem Essen und Wein in der verqualmten Gefängniskneipe stundenlag mit seinen Kumpanen zusammensitzen und sich des Nachts sogar der Liebe hingeben, denn Frauen boten sich hier in Scharen an. Aber die meisten Inhaftierten waren Leute, die keinen einzigen Farthing besaßen und Willkür und Gleichgültigkeit der Wärter wehrlos hinnehmen mußten. Sie wurden in fensterlose Zellen gesperrt, zu Dutzenden oft, so daß sie sich kaum bewegen konnten. Wenn sie Glück hatten, bekamen sie einen Ballen Stroh nachgeworfen, von dem die Stärksten den Hauptteil nahmen, der Schwächste gar nichts übrigbehielt und auf dem nackten Fußboden kampieren mußte. Manchmal wurde ihnen über Tage hinweg kein Wasser zum Waschen zugeteilt, so daß es in all dem
Schmutz immer wieder Infektionskrankheiten gab, die viele hinwegrafften. Am schlimmsten jedoch war der Hunger. Wer nichts kaufen konnte, bekam nur selten, je nach Laune der Wärter, den beinahe ungenießbaren Fraß aus der Küche vorgesetzt. Scharen von Häftlingen verhungerten. Es geschah oft, daß einzelne, besonders wenn man sie in die untersten Kellergewölbe gesperrt hatte, einfach vergessen wurden. Ihre Schreie drangen nicht durch die dicken Mauern nach oben und verstummten irgendwann, dann fand man sie Wochen später schon halb verwest in irgendeiner Ecke liegen.
Unter denen, die sich durch Bestechung Bewegungsfreiheit im Haus erkauft hatten, waren Raubüberfälle, Messerstechereien und Morde an der Tagesordnung; was einst draußen begonnen hatte, wurde drinnen ungehemmt fortgesetzt, denn Überleben verlangte Bereicherung um jeden Preis. Es gab Leute, die durch Geschicklichkeit und gänzliche Skrupellosigkeit im Gefängnis ein Vermögen erwarben, das schließlich sogar ausreichte, sich freizukaufen und ein herrliches Leben in Luxus zu beginnen. Körperliche Schwäche oder Sanftmut hingegen bedeuteten unweigerlich ein jämmerliches Ende.
Ein verwahrloster Aufseher mit dem brutalen Gesicht eines Metzgers öffnete das eisenvergitterte Eingangstor, als Elizabeth und Sally erschienen. Da beide keine vornehme Kleidung trugen, sah er sie mit unverschämter Herablassung an.
»Na, was wollt ihr?« fragte er.
Elizabeth zuckte vor seiner harten Stimme zurück, aber Sally bewies mehr Mut.
»Gestern ist John Carmody hierhergebracht worden«, sagte sie, »und wir möchten ihn sehen.«
»Warum?«
»Dies«, sie wies auf Elizabeth, »ist Lady Carmody!«
Der Wärter grinste.
»Eine Lady, hä?« fragte er. »Schöne Lady! Stell’ mir eine Lady immer ein bißchen anders vor, mein hübsches Mädchen!« Elizabeth warf ihm einen Blick der Verachtung zu.
Wäre ich doch die Elizabeth von früher, dachte sie zornig,
dann würdest du diese Bemerkung teuer bezahlen, verlaß dich drauf!
»Nun gut, ich habe ein verdammt weiches Herz«, sagte der Wärter, »ihr dürft euren John sehen. Aber...«
»Wieviel?« fragte Sally kalt.
»Ich muß auch für meine Frau und meine Kinder sorgen, und die Zeiten sind schlecht. Jeder kümmert sich nur um sich selbst...«
»Wieviel?«
»Zehn Pence.«
»Zehn Pence? Du bist wahnsinnig!«
»Dann acht.«
»Fünf«, sagte Sally mit Bestimmtheit.
Trotz ihres Elends erfüllte es Elizabeth mit Bewunderung, wie gut die sanfte Sally mit der rauhen Wirklichkeit zurechtkam. Sie selbst hätte
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