Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
eindringlich. Elizabeth nickte. Mit dem Ärmel ihres Kleides wischte sie die Tränen ab.
»Meine Verhandlung wird in der nächsten Woche sein«, fuhr John fort, »den genauen Tag teilt man mir leider nicht mit, aber vielleicht kannst du ihn herausfinden und zum Gericht kommen. Und bis dahin darfst du mich nicht mehr besuchen. Du regst dich unnötig auf, und das möchte ich nicht.«
»Aber wer wird sich um dich kümmern?«
»Du kannst doch sowieso nichts für mich tun, wenn du hier bist. Aber vielleicht hast du etwas Geld...?«
»Ich habe Geld«, mischte sich Sally ein, »und du wirst es auch
annehmen, John. Du kannst es mir ja irgendwann zurückzahlen.«
»Irgendwann«, wiederholte John, »ich danke dir, Sally.« Er ergriff die Münzen, die sie ihm reichte, küßte Elizabeth und trat einen Schritt zurück.
»Auf Wiedersehen«, sagte er, »bis nächste Woche.«
»Auf Wiedersehen«, entgegnete Elizabeth leise, »und... kauf dir etwas zu essen, keinen Schnaps!«
»Was zu essen und Schnaps«, meinte John, »dann wird es ein gemütlicher Abend!«
Seine bemühte Heiterkeit schnitt ihr ins Herz.
Wenn du doch jammern wolltest, dachte sie, ich würde dich trösten.
Sally mußte sie mitziehen, sonst wäre sie noch eine Ewigkeit auf demselben Fleck stehengeblieben und hätte John nachgestarrt, der von dem Wärter wieder abgeführt wurde. Sie atmete freier, als sie endlich draußen auf der Straße waren. Ihre Gedanken aber blieben drinnen in dem steinernen Raum und bei John, und nicht einmal Sallys fröhliches Geplauder und die warme Sonne vermochten sie abzulenken.
Kaum hatte die nächste Woche begonnen, da lief Elizabeth jeden Morgen schon früh zum Gerichtsgebäude, um auf dem an die Tür geschlagenen Papier zu lesen, gegen welche Personen an diesem Tag verhandelt wurde. Es waren immer recht viele, die vor den Richter geführt wurden, so daß sie sich vorstellen konnte, wie wenig Zeit er an jeden einzelnen verwandte.
Erst am Donnerstag aber hatte sie Glück und fand unter den krakelig geschriebenen Namen auch den von John. Um elf Uhr, so stand dort, sollte er an die Reihe kommen. Elizabeth rannte wieder nach Hause, wo Sally und Patrick gespannt warteten.
»Heute«, sagte sie, »heute um elf!«
Sie wußten kaum, wie sie die Zeit herumbringen sollten, und machten sich sehr zeitig auf den Weg. Sie mußten die drei jüngsten Kinder mitnehmen, weil sich niemand gefunden hatte, der
auf sie aufpaßte. Elizabeth hoffte, daß sie nicht zu sehr quengeln würden.
Sie kamen viel zu früh an, wurden von einem brummigen Türsteher auf eine harte Holzbank am hinteren Ende des Gerichtssaales gescheucht und erlebten noch den Rest der gerade laufenden Verhandlung mit. Eine unglaublich verwahrloste Frau mit scharfen Gesichtszügen unter schmutzig-blonden Haaren stand unter Anklage, offenbar wegen mehrfachen Diebstahls. Der Richter, ein alter grauhaariger Mann, blickte sie mürrisch und desinteressiert an.
»Ich habe dich jetzt schon dreimal hier stehen sehen«, sagte er gelangweilt, »und immer hast du gestohlen. Du willst dich gar nicht bessern.«
»Doch, Euer Ehren«, beteuerte die Frau, »aber wovon soll ich leben?« »Das ist nicht mein Problem. Ich habe dafür zu sorgen, daß Ordnung in London herrscht. Und mir reicht es jetzt mit dir. Ich verurteile dich zu lebenslanger Zwangsarbeit in Australien.« Unter den Zuschauern entstand Geraune. Es kam nicht allzu häufig vor, daß diese härteste Strafe verhängt wurde. Die Angeklagte wankte.
»O nein, Euer Ehren, nur das nicht«, flüsterte sie entsetzt, »bitte nur das nicht. Ich schwöre bei Gott, daß ich nie wieder stehlen werde, und müßte ich sterben vor Hunger. Aber lassen Sie mich hier, haben Sie Erbarmen, ich bitte Sie!«
Der Richter schüttelte den Kopf und machte dem Gerichtsdiener ein Zeichen, die Frau abzuführen. Elizabeth, der ihre Stimme die ganze Zeit schon bekannt vorgekommen war, hielt den Atem an, als sie die Fremde jetzt aus der Nähe sah. Es war Claire, Samanthas Freundin, die sie damals als Kind bei Ellens Hinrichtung kennengelernt hatte. Sie war über die Maßen gealtert, trug kein schönes Kleid, war nicht geschminkt, und auch die klirrenden Ohrringe fehlten, doch es handelte sich eindeutig um die einst hübsche, aufgeputzte Claire. Natürlich erkannte sie Elizabeth nicht, sondern sah starr aus tränenfeuchten Augen durch sie hindurch. Trotz ihres eigenen Kummers und obwohl sie Claire
fast überhaupt nicht gekannt hatte, empfand Elizabeth
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