Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
einem Sofa, fastete, weinte, jammerte und versuchte in Gesprächen mit ihrem verstorbenen Phillip herauszufinden, ob nicht auch ihr Hinscheiden endlich nahe stünde.
Es war der April des Jahres 1815, und Europa brodelte so heftig, daß jeder ahnte, welch eine ungeheure Explosion bevorstehen mußte, und nur darauf wartete, daß sie mit Pulverrauch und Kanonendonner hereinbrach. Am 20. März war Napoleon Bonaparte, der abgesetzte Kaiser der Franzosen, aus seinem Exil auf Elba nach Paris zurückgekehrt, begleitet von einer Armee, die mit jedem Tag seines dreiwöchigen Marsches von Cannes in die Hauptstadt des Landes gewachsen war, begeistert begrüßt von jubelnden Bonapartisten, voller Siegesgewißheit bereit, eine neue, glanzvolle Ära zu beginnen, von der noch niemand wußte, daß sie hundert Tage dauern und auf den Schlachtfeldern von Waterloo blutig enden sollte.
Europa und die verbündeten Armeen von England, Rußland, Preußen und Österreich, die sich ahnungsvoll bereits mit fast 600 000 Soldaten rings um die Grenzen Frankreichs bereitgestellt hatten, betrachteten mit einem gewissen Staunen die Unverfrorenheit, mit der der einstige Kaiser daranging, seine Große Armee erneut aufzubauen.
In Wahrheit hatte aber wohl niemand daran geglaubt, daß dieser Mann sich geschlagen geben würde, auch nicht, als er im Mai 1814 seinen Thron und Frankreich hatte verlassen und in die Verbannung nach Elba gehen müssen. Sein Stern war lange schon am Sinken gewesen, obwohl er nach der schmachvollen Niederlage von Trafalgar noch überragende Siege hatte erringen können. In Jena und Auerstedt und in Friedland wurden die Gegner der Franzosen vernichtend geschlagen, und Napoleon, nun entschlossen, auch seinen widerspenstigsten Feind, England, endgültig zu besiegen, versuchte, die Britischen Inseln in eine Wirtschaftskrise zu treiben, die sie aushungern sollte. Er verbot jeden Handel kontinentaler Staaten mit England und versuchte sogar, die Waren britischer Schiffe aus den westindischen Kolonien zu beschlagnahmen.
Die Insel aber hielt durch. Jeder erinnerte sich noch gut an die schweren Jahre von 1806 bis 1812, in denen die wirtschaftliche Depression Großbritanniens langsam ihrem Höhepunkt entgegenstrebte, in der ungezählte Existenzen zerbrachen, Scharen von Menschen verhungerten, der Adel voller Empörung auf die sonst gewohnten überreichen Mengen an Luxusgütern verzichten mußte und es trotz allem nicht gelang, das englische Königreich in den Ruin zu treiben. Und dies, obwohl König George III. seit 1811 in vollkommene geistige Umnachtung gestürzt war, fernab der Welt vegetierte, Englands Leiden nicht erlebend, aber auch nicht mehr in der Verfassung, den großen Sieg von Waterloo wahrnehmen zu können.
Frankreich mußte schwere Niederlagen in Spanien und Portugal hinnehmen, was Napoleons Ruf im eigenen Land nicht verbesserte. Eine britische Armee hatte sich unter dem Kommando des Sir Arthur Wellesley, des späteren Duke Wellington, auf der
Pyrenäenhalbinsel aufgestellt, errang dort einen Sieg nach dem anderen und konnte 1813 die Franzosen hinter das Grenzgebirge zurückwerfen.
Kurz zuvor war Napoleons Rußlandfeldzug gescheitert, und es schien, als habe sich der Untergang des Eroberers in jenen Wochen bestimmt, als er, das brennende Moskau hinter sich, mit seiner Armee durch den russischen Winter floh und einer nach dem anderen der ihm verbliebenen Männer rechts und links des Weges im Schnee starb. Bei Leipzig wurde er von den Preußen besiegt, Wellington drang in Südfrankreich ein, und plötzlich hatte sich alles und jeder gegen ihn verschworen. Im Volk fand er keine Unterstützung mehr. Nach seiner Abdankung wurde Ludwig XVIII., der Enkel des einundzwanzig Jahre zuvor hingerichteten Ludwig XVI., von den vereinigten Armeen zum König erklärt, wobei er nicht ahnte, daß er ein Jahr später vor dem unbeugsamen Bonaparte aus den Tuilerien fliehen und sich angstvoll im royalistischen Lille verbergen würde, vor Augen immer das Bild seines Großvaters, den das eigene Volk auf die Guillotine geschleppt hatte.
Für gewöhnlich hätten Harriet die Vorgänge in Frankreich nicht im geringsten interessiert, denn Dinge bereiteten ihr immer erst dann Verdruß, wenn sie sie unmittelbar betrafen, und alles Kriegerische fand sie ohnehin verabscheuenswürdig und nicht für wert, darüber nachzudenken, aber dieser Krieg und dieser verhaßte Bonaparte drohten ihr die Menschen zu nehmen, an denen sie, seitdem Phillip und Cynthia
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