Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
gesehen. Wo sie auch hinblickte, rollten Kutschen, schritten in kostbare Pelze gehüllte Damen und stattliche Herren vorüber, ertönten Rufe und Gelächter. Immer wieder streifte ein köstliches Parfüm die Nase oder tauchten plötzlich ein verwegen roter Mund und hochgetürmte Lockenberge auf. Elizabeth, leicht zu beeindrucken, fiel von einem Staunen ins nächste. Ohne richtig zu begreifen, was alles sich hier abspielte, witterte sie darin doch das wahre Leben, das jenseits von Dachbodenspielen und Gesangsstunden lag. Die Zukunft lief auf etwas anderes hinaus als auf das Glück in der liebevollen Geborgenheit einer Familie. In weiter Ferne wartete eine Wirklichkeit, die nichts Sanftes mehr besaß. Wie sehr diese Wirklichkeit bereits in ihr Leben eingegriffen hatte, wußte Elizabeth überhaupt nicht. Sie machte sich nicht klar, daß sie ihr schon in die Augen geblickt hatte, als Sarah und Henry elend starben, als sie Louisiana verlassen mußte, als sie, von wilden,
verzweifelten Menschen bedroht, zitternd ein Versteck hinter einem Stapel von Kisten suchte, als John vor ihren Augen einen fremden Mann tötete. Ihre Kindlichkeit besaß noch die Fähigkeit des vollkommenen Verdrängens. An einem der ersten Januartage des Jahres 1790 aber wohnte sie einem erschütternden Ereignis bei.
Sie kehrte am frühen Abend mit Joanna von einem Spaziergang zurück, verfroren wie noch nie. In London herrschte meist eher feuchte als trockene Kälte, doch an diesem Tag lastete kein Nebel über der Stadt, sondern die Luft blieb trocken und eisig kalt. Viele Leute hatten behauptet, es werde sogar Schnee geben, man könne ihn bereits riechen.
Zu Hause beschlossen Joanna und Elizabeth, sich in der Küche aufzuwärmen. Ohnehin war dort ihr liebster Aufenthaltsort, wenn sie nicht gerade spielten. Die Küche befand sich im Keller des Hauses, und hier herrschte immer eine herrliche Wärme von dem Feuer im Herd. Es roch nach einem frischgebackenen Kuchen, nach Vanille und Mandeln. Auf dem breiten hölzernen Tisch rollte die Köchin Teig aus, daneben stand ein Küchenmädchen und füllte Pasteten mit Fleisch. Ein weiteres Mädchen kniete neben dem Herd, um die gehackten Holzscheite aufzuschichten, dabei unterhielt sie sich mit einem Diener, der neben ihr saß und sie hingebungsvoll betrachtete. Die ganze Wärme und Gemütlichkeit dieses Dienstbotenreiches umfing die Kinder, als sie nebeneinander durch die Tür stürmten. Die Köchin Alice sah auf und lächelte strahlend.
»O meine Goldstücke!« rief sie. »Kommt her, Kinder, setzt euch an den Tisch. Ihr seht ja ganz verfroren aus! Ihr bekommt jetzt Kakao!« Schon schleppte sie Milch herbei. Das Küchenmädchen Eve schob ihnen zwei Pasteten zu.
»Mögt ihr die essen?« fragte sie.
Die Kinder machten sich sogleich über das noch warme Gebäck her, tranken Kakao, baumelten mit den Beinen und genossen das Kitzeln in den Fingern, als die Hände langsam wieder warm wurden. Eve summte ein trauriges Liebeslied vor sich hin, und Alice bekam beim Zuhören ganz feuchte Augen. Joanna und
Elizabeth amüsierten sich über die schmachtenden Blicke, mit denen der Diener Samuel das zweite Küchenmädchen Samantha anstarrte. Sie kicherten verstohlen, da unterbrach Samuel plötzlich die Stille.
»Ist es wahr«, fragte er, »daß Ellen Lewis morgen vor dem Fleetprison gehängt wird?«
Eve hörte auf zu singen, und Alice runzelte die Stirn.
»Samuel, die Kinder«, zischte sie. Samuel zuckte die Schultern.
»Na und?« meinte er. »Es wird jeden Tag einer gehängt!«
»Ellen Lewis«, wiederholte Samantha, »hat man sie doch noch erwischt!«
»Was hat sie eigentlich getan?« erkundigte sich Eve. Samuel grinste.
»Nichts weiter als ein paar Raubmorde verübt. Sie soll mit irgendeinem alten Kerl herumgezogen sein. In den Wirtshäusern hat sie die reichen Männer angelockt, sie in verschwiegene Ecken geführt, und dort wartete dann schon ihr Freund. Na ja, und dann...« Er machte die Bewegung des Halsabschneidens. Eve war ganz blaß geworden.
»Das hätte ich nicht von ihr gedacht«, murmelte sie.
»Sie war immer ein leichtfertiges Ding«, stellte Alice fest, »und so kommt es nun mal mit leichtfertigen Dingern!«
Joanna und Elizabeth hörten mit weit offenen Mündern zu.
»Wer ist Ellen Lewis?« fragte Joanna schließlich.
»Sie war Küchenmädchen wie wir«, erklärte Samantha, »nicht hier, in einem anderen Haus, in dem wir drei auch gearbeitet haben. Das hat ihr aber nicht gereicht. Sie wollte mehr
Weitere Kostenlose Bücher