Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
beinahe nichts, was sich die verheirateten Männer und Frauen nicht erlaubten, aber mit einer unglaublichen Aufmerksamkeit und Unnachsichtigkeit wurde über die Keuschheit junger Mädchen gewacht. Bei ihnen konnte jeder aufleuchtende Blick, jedes ermunternde Lächeln, jedes zu laute Lachen bereits als zutiefst verwerflich gelten. Jede Woche hatte die Gesellschaft einen neuen Skandal in den Salons zu besprechen, jedesmal ausgelöst durch ein junges Mädchen, das in irgendeiner verfänglichen Situation überrascht worden war. Hatte man sich darüber genug erregt, zog man sich, durchaus nicht immer diskret, zu den eigenen Freuden zurück.
Die Sheridys hielten sich abseits der Gesellschaft, sie nahmen vielmehr nur an höchst offiziellen Festlichkeiten teil und ließen den Rest aus. Im St.-James-Palast wenigstens herrschte noch ein Hauch von Anstand. Die Königsfamilie hielt sich zwar auch nicht von allen Lastern fern, aber der König selbst immerhin galt als ziemlich tugendhaft. Es gab allerdings sonst nicht viel Gutes, was man über George III. sagen konnte. Im vergangenen Jahr erst war er von einer Geisteskrankheit befallen worden, die beinahe
sechs Monate dauerte und während deren Verlauf die Nation angstvoll damit rechnete, über kurz oder lang den Prince of Wales den Thron besteigen zu sehen, der außer seinen rasch wechselnden Geliebten und auserlesenen Speisen keine Interessen hatte. George III. hatte Anfälle von Wahnsinn, galt als völlig ungebildet, und unter seiner Regentschaft erreichte England den moralischen Tiefpunkt seiner Geschichte, aber wenigstens war er fromm und gutmütig.
Selbst Kritiker atmeten daher auf, als seine Gestörtheit endete und er die Krone behalten konnte.
Joanna, Cynthia und Elizabeth sollten natürlich von dem verderblichen Einfluß ferngehalten werden, dem sie in London ausgesetzt sein konnten. Ihre Welt blieb die des Wohlstandes und des Friedens, abgeschlossen gegen das Böse von draußen. In diesem Winter, der mit eisiger Kälte und Nebel kam, bildete das alte geräumige Stadthaus die schützende Burg. Stunde um Stunde spielten die Kinder auf dem riesigen Dachboden mit seinen knarrenden Holzdielen und Spinnweben zwischen den Wandpfeilern, mit seinen hundert Ecken und Winkeln, in denen man unerwartet die seltsamsten Dinge finden konnte. Hier gab es vergilbte Bücher, mit blaß gewordener Tinte beschrieben, so das unglaublich faszinierende Tagebuch einer Laura Sheridy, die in den Jahren des englischen Bürgerkrieges über die täglichen Abenteuer ihres Lebens berichtet hatte, oder eine dreihundert Jahre alte Bibel, von einem Angus Sheridy mit seinen gottlosen Randbemerkungen versehen. Es gab Stoffpuppen, zerschlissene Seidenkleider, Perücken und Schuhe, getrocknete Blumen und zerbrochene Schmuckstücke. Joanna kannte viele dieser Dinge bereits von ihren früheren Aufenthalten in London her und stieß Triumphschreie aus, wenn sie auf einen vertrauten Gegenstand stieß. In Elizabeth stiegen Bilder wunderbarer Spiele auf, die man hier spielen konnte, und in Joanna fand sie begeisterten Widerhall. Joanna blieb die Anführerin. Sie wußte sofort, wie jeder Plan in die Wirklichkeit umgesetzt werden konnte, sie kannte kein Zögern und keine Scheu zu tun, was sie tun wollte. Sie stülpte sich einen enormen Hut auf den Kopf, stieg in wahre Fässer
von Reitstiefeln und stürmte über die Treppen des Hauses, gefolgt von Elizabeth im Reifrock, das Gesicht von einem Schleier verhüllt.
Natürlich gab es manchmal auch unliebsame Unterbrechungen, so etwa, wenn Harriet die Kinder in ihren Salon bat, um ihnen dort Geschichten vorzulesen oder Lieder mit ihnen zu singen. Sie mußten dann ganz still sitzen und Harriets klarer Stimme lauschen, aber Elizabeths Augen schweiften jedesmal unruhig durch das Zimmer, berührten das lodernde Feuer im Kamin, das Großmuttergemälde in der Ecke, den weichen Teppich und schließlich den Nebel draußen über den Hausdächern. Irgendwann aber trafen ihre Augen auf die von Joanna, in denen es immer funkelte und in denen Elizabeth das Spiegelbild des eigenen Erlebnishungers erblickte. Sie lächelten einander zu, und auf einmal kehrte alle lebendige Regsamkeit in Elizabeth zurück, und das Herumsitzen in diesem Zimmer wurde ebenso zum Spiel wie alles andere.
Häufig gingen sie mit Agatha im St.-James-Park spazieren, wo es so aufregend war, daß sie sogar die beißende Kälte und die Feuchtigkeit vergaßen. Nie hatte Elizabeth so viele elegante Menschen auf einmal
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