Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
meine unverhohlene Überraschung. Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu treffen.«
»Mir geht es genauso«, erwiderte Andrew etwas unsicher, »aber ich bin sehr froh, Sie einmal wiederzusehen, Lady Gallimore. « Sie hatten vor neun Jahren wenig Zeit füreinander gehabt, daher fühlten sie sich sehr fremd. Zwischen ihnen stand
jene schreckliche Nacht des Uberfalls, in der Elizabeth den Earl verlassen hatte, aber Joanna wußte sofort, daß keiner von ihnen darüber sprechen würde. Sie betrachtete Andrew forschend. Er sah sehr viel älter aus als damals und wirkte viel verschlossener; er hatte seine ganze jugendliche Herzlichkeit verloren und war zu einem höflichen, äußerst zurückhaltenden Herrn geworden. Wer wußte, was er damals durchgemacht hatte, konnte in seinem Gesicht deutlich die Spuren von Kummer und Schmerz erkennen.
Und wieder einmal, wie so oft in den letzten Jahren, wenn sie an ihn gedacht hatte, überkam Joanna ein heftiger Zorn auf Elizabeth. An diesem Gesicht vor ihr konnte sie erkennen, was Elizabeth Andrew bedeutet hatte und wie grausam sie ihn verletzt hatte.
Nach einiger Zeit erst gewahrte Joanna die junge Frau an Andrews Seite, die mit einem etwas überraschten Gesicht die schwerfällige Begrüßung zwischen dem Earl und Joanna verfolgte. Im gleichen Moment sagte Andrew:
»Verzeihen Sie, ich vergaß völlig, Sie vorzustellen. Lady Gallimore, dies ist meine Frau, Lady Anne Courtenay!«
Joanna konnte kaum einen Ausruf des Erstaunens zurückhalten. Anne blickte sie sanft und unsicher an.
Sie sah Elizabeth sehr ähnlich. Sie hatte die gleiche Größe und Figur, dichtes pechschwarzes Haar und große blaue Augen. Sie war schöner als Elizabeth, glatter, regelmäßiger, aber weniger einprägsam. »Ach, Sie haben wieder geheiratet«, sagte Joanna wenig geistreich.
»Meine erste Ehe«, erwiderte Andrew mit unbeweglichem Gesicht, »wurde aufgrund außergewöhnlicher Umstände für ungültig erklärt.«
»Oh, ich verstehe... wie nett, Sie kennenzulernen, Countess...«
»Ich bin ebenfalls sehr erfreut«, gab Anne zurück. Sie standen einander etwas verlegen gegenüber, dann sagte Joanna hastig: »Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Ich suche ganz verzweifelt nach meinem Bruder George. Aber dieses Gedränge...«
»Das ganze Land scheint hierzusein«, stimmte Andrew zu, »lassen Sie sich nicht aufhalten. Wir wünschen Ihnen einen schönen Abend!«
Freundlich verabschiedeten sie sich voneinander. Im Fortgehen registrierte Joanna nun endlich auch, daß Andrew eine Uniform trug. Deshalb natürlich hielt er sich in Brüssel auf. Wieder einer mehr, um den sie bangen mußte.
Die Angst ist schon hier im Saal, dachte sie unbestimmt, sie wird immer stärker und dichter. Jeder weiß, was geschehen wird, jeder weiß es...
Sie stolperte schließlich fast über George, der an einer Wand lehnte und seine gekreuzten Füße weit in den Raum ragen ließ.
»George!« rief Joanna. »Mein Gott, George, ich suche dich überall!«
»Das ist ja nicht zu glauben«, sagte George fassungslos. »Was machst du denn hier?«
Er stellte sich gerade hin und schlang beide Arme um seine Schwester.
»Joanna! Du tauchst plötzlich aus dem Gewühl auf, als sei das gar nichts Besonderes. Wie schön du aussiehst!« Er betrachtete sie bewundernd und zupfte an einer langen blonden Locke, die ihr auf die Schulter fiel. George war jetzt fünfundzwanzig und sah seinem Vater immer ähnlicher. Er wirkte in seiner Uniform sehr erwachsen, anders als viele seines Alters, die dadurch eher jungenhaft aussahen. Er hatte bereits den blutigen Pyrenäenfeldzug mitgemacht, und das hatte ihn sehr reifen lassen. Joanna, in deren Vorstellung er immer nur ihr kleiner, quengelnder Bruder war, betrachtete ihn fasziniert. Zum ersten Mal an diesem Abend fühlte sie sich glücklich. Sie hatte für George nie viel übrig gehabt, aber hier in der Fremde merkte sie, wie stark die Familienzusammengehörigkeit zwischen ihnen war. Sie lächelten einander kameradschaftlich zu, noch ein wenig erstaunt und zurückhaltend, aber voller Verständnis.
»Komm, wir holen uns etwas zu trinken«, schlug George vor, »und dann mußt du mir von zu Hause erzählen und weshalb du hier bist!«
Sie nahmen sich zwei Gläser mit Sekt, aber zu einer ausführlichen Unterhaltung kamen sie kaum, so viel Gedränge herrschte hier. George wurde häufig von Kameraden angesprochen, denen er dann voller Stolz Joanna als seine Schwester vorstellte. Joanna schüttelte viele Hände,
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