Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
zuvorgekommen«, murmelte ein junger Offizier erschöpft, als Elizabeth ihm mit einer Schöpfkelle etwas Wasser reichte und ihm gleichzeitig vorsichtig sein blutverschmiertes Hemd von den Schultern streifte. »Gott, steh uns bei gegen diesen Franzosen!«
»Wo bleiben denn die Engländer mit Wellington?« fragte Elizabeth.
Sie konnte sich mit den meisten Preußen verständigen, da sie Französisch sprachen.
»Die werden woanders zu tun haben. Bonaparte hat sein Heer geteilt. O Madame, bitte noch einen Schluck Wasser!«
Die Verletzten wurden auf die Schlafzimmer des Schlosses verteilt, wenn auch Tante Marie schockiert war über die Tatsache, daß im Himmelbett ihrer seligen Mutter ein unrasierter Soldat friedlich träumte. Sie und Hortense bewiesen jedoch eine gewisse Tatkraft. Sie brachten Verbandszeug, frisches Wasser und kräftiges Essen herbei und zierten sich nicht, Blut abzuwischen oder Wunden auszuwaschen.
Während die drei Frauen sich um die Soldaten kümmerten, suchte John im ganzen Schloß Gewehre und Munition zusammen. Elizabeth, die entnervt mit aufgelösten Haaren und hochgekrempelten Ärmeln Treppen hinauf- und hinunterlief, fragte ihn entsetzt, warum er das tue.
»Im Notfall will ich mich verteidigen können«, erwiderte John, »denn es sieht leider so aus, als würden wir in diese ganze scheußliche Sache verwickelt.«
»Aber sie werden doch nicht gerade hier...«
»Im ganzen Tal, Elizabeth. Überall. Und um Häuser wie dieses hier werden sie am erbittertsten kämpfen.« Er lächelte und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Schau nicht so ängstlich drein. Uns geschieht nichts.«
Aber Elizabeth merkte, wie ihre Unruhe ständig stieg. Zu allem Überfluß wurde es draußen mit jeder Stunde schwüler, das Land brannte unter der Sonne, und kein Windhauch bewegte die Äste der Bäume. Nicht einmal die Nacht brachte nennenswerte Abkühlung. Als Elizabeth aufwachte, fiel eine jähe Angst über sie her. Sie setzte sich auf und sah John, der vor dem Spiegel über der Waschschüssel stand und sich rasierte.
»John«, rief sie, »ich will fort von hier! Noch ehe dieser Kampf beginnt!«
John wandte sich zu ihr um und lachte.
»Dafür ist es zu spät. Im Moment sind wir wohl am sichersten, wenn wir hier in unseren Mauern bleiben.«
»Aber wenn sie dich töten?«
»Wer? Die Franzosen? Ich versichere dir, Elizabeth, dazu werden sie gar keinen Grund haben. Ich halte mich aus allem völlig heraus!«
»Aber du bist Engländer!«
John neigte sich wieder seinem Spiegelbild zu.
»Für England würde ich nicht einmal den Verlust meines kleinen Fingers riskieren«, sagte er, »für ein Land, in dem man mich aufhängt, sobald ich nur seinen Boden betrete! Nein, Liebste, verteidigen werde ich heute nur mich und dich und in Gottes Namen Tante Marie und Hortense. Aber nicht England oder diesen verfluchten Wellington!«
Er warf sein Rasiermesser fort und wischte sich den letzten Schaum von der Wange.
»Komm, steh auf, Elizabeth. Zieh dir was an, und dann gehen wir frühstücken. Ich glaube nicht, daß uns Paulette heute etwas heraufbringt.« Gewöhnlich nämlich ließen sie sich das Frühstück von dem Dienstmädchen ans Bett bringen, weil sie nicht schon morgens die sauertöpfischen Mienen der Tanten ertrugen, aber mit den vielen Verwundeten würde Paulette heute anderes zu tun haben. So begaben sie sich hinunter ins Eßzimmer, wo Tante Marie und Hortense bereits dem ewig gleichen Ritual ihrer gemeinsamen Morgenmahlzeit folgten. Sie saßen wie zwei dunkelgraue Schatten in dem hohen, eichenholzgetäfelten Raum, durch dessen steinerne Mauern auch im Sommer keine Wärme drang und in dessen Kamin wegen Tante Maries Geiz nie ein Feuer brannte. Die beiden Frauen saßen sich an dem langen Tisch gegenüber, so weit auseinander, daß man hätte meinen können, sie gehörten gar nicht zueinander. Zwischen ihnen brannte eine Kerze auf einem altsilbernen Leuchter. Die Vorhänge des Raumes waren geschlossen, da Hortense immer behauptete, die Morgensonne sei unverträglich für ihre Haut. Für Elizabeth hatte dieses Zimmer stets die unheimliche Aura einer Gruft gehabt, die sie erschauern ließ, aber heute fühlte sie sich von dieser abgeschlossenen Stille zum erstenmal beruhigt. Hier drinnen ahnte man nichts mehr von Soldaten, Schlachtengetümmel
und Weltuntergang. Sie hatte plötzlich den Eindruck, es werde diesen vertrockneten alten Frauen gelingen, ihre Welt sogar gegen einen Napoleon Bonaparte zu verteidigen.
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