Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
ihren Füßen zusammenbrach. Das löste sie aus ihrer Erstarrung.
»John«, rief sie »hilf mir!« Gemeinsam hoben sie den Soldaten auf und trugen ihn auf ein Sofa, eines der wenigen, die noch frei waren, und Elizabeth bekämpfte mühsam den Brechreiz, der sie beim Anblick der abscheulichen Bauchwunde befiel. Ehe sie sich’s versah, hatte sie alle Hände voll zu tun. Sie schleppte Wasser herbei, wobei sie kaum einen Schritt vorwärts kam, denn hundert Hände streckten sich ihr entgegen, hielten sie am Rock fest. Dünne Stimmen flehten um einen Schluck zu trinken. Sie wechselte Verbände, wischte Blut auf, hielt Sterbende, die sich an sie klammerten und schreiend um Hilfe baten, versuchte denen Trost zu geben, die vor Schmerzen halb wahnsinnig um eine rasche Erlösung kämpften, und sah dabei in den weit aufgerissenen Augen, daß sie ihre Worte kaum verstanden.
»Verflucht, nur ein kleines bißchen Morphium«, stöhnte ein französischer Offizier, »hätten wir doch nur ein bißchen Morphium! «
Immer wieder starb einer der Ärmsten, dann mußte er schnell in eine kalte Ecke getragen werden, damit die bequemeren Plätze für die Lebenden frei wurden. John, Paulette, Jerome und der Bauer halfen eifrig mit, nur mit der Bäuerin und Hortense war nichts anzufangen. Beide hatten einen Schock erlitten und sahen aus gläsernen Augen auf das Treiben um sie herum. Elizabeth wußte, daß es für beide besser wäre, in einem ruhigen, dunklen Raum eine Weile zu schlafen, aber es gab kein einziges freies Bett im Schloß, nicht einmal einen freien Tisch oder Teppich. Die Verwundeten lagen überall, viele so dicht, daß sie einander bei jeder Bewegung Schmerzen zufügten. Elizabeth rannte hin und her, bis sie meinte, es vor Müdigkeit nicht mehr auszuhalten. Seit
dem frühen Morgen hatte sie keinen Bissen mehr gegessen und nur in der letzten Stunde ab und zu einen Schluck Wasser getrunken. Beim Vorbeikommen an einem zersprungenen Spiegel hatte sie festgestellt, daß ihre Lippen rissig waren und eine bräunliche Farbe angenommen hatten, daß ihr Haar aufgelöst bis zur Taille hing, daß ihr einst weißes Kleid voller Ruß, Schlamm und Blut war. Ihr Gesicht schien ihr fremd, verstört und grau. Sie schämte sich, daß sie in einer Nacht wie dieser an ihren Hunger dachte, aber sie lief dennoch in die Küche, um zu sehen, ob sie etwas zu essen finden könnte. Dort hockten ein paar leicht verletzte Franzosen. Elizabeth blieb in der Tür stehen.
»Gibt es hier noch irgend etwas zu essen?« fragte sie. Die Männer schüttelten den Kopf.
»Nein, Madame. Alles verbraucht.«
»Ja, ich verstehe...« Elizabeth konnte nicht verhindern, daß ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie weinte weniger vor Enttäuschung als wegen ihrer Kraftlosigkeit. Die Männer betrachteten sie mitleidig.
»Scheußlich da draußen, wie?« fragte einer.
»Ja, scheußlich, ganz furchtbar. Es ist ganz furchtbar!« Elizabeth stützte sich mit beiden Armen auf einen niedrigen Schrank und ließ den Kopf hängen.
»Ich kann nicht mehr«, schluchzte sie, »ich kann es nicht mehr sehen und nicht mehr ertragen! Sie sterben und schreien, und ich kann ihnen nicht helfen. O Gott, dieser Tag heute, ich werde nichts davon vergessen, ich werde nie wieder schlafen können, ich werde nicht mehr leben können...«
»Ach Madame, das sind hier im Schloß doch nur einige wenige! Sehen Sie hinaus, durch die Nacht kriechen Tausende, und die Gedärme hängen ihnen aus dem Leib und...«
»Laß doch«, unterbrach ein anderer, »sie wird uns ohnehin gleich ohnmächtig!« Er stand mühsam auf, hinkte zu Elizabeth hin und hielt ihr eine Flasche vor die Nase.
»Hier, Madame, trinken Sie einen Schluck. Das hilft ein bißchen! « Elizabeth ergriff die Flasche und nahm einen tiefen Schluck daraus. Ein schauerlich scharfes Zeug rann ihr durch die
Kehle und erfüllte sie mit brennender Hitze. Der Schnaps erinnerte sie an einen Augenblick in ihrer Kindheit, als Luke sie aus ihrer Bewußtlosigkeit weckte. Dies hier schmeckte ebenso scheußlich, hatte aber die gleiche heilsame Wirkung. Sie konnte sich wieder beherrschen.
»Danke«, sagte sie schwach, »jetzt geht es mir besser.« Ihr Kopf fühlte sich ein bißchen leicht an, und ihr Hunger war wenigstens für kurze Zeit betäubt. Doch kaum kehrte sie in die Halle zurück, wo die meisten Soldaten lagen, da bekam sie Krämpfe im Magen, der, seit vielen Stunden nüchtern, gegen den starken Branntwein aufbegehrte.
Durch eine Seitentür lief sie
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