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Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Titel: Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Bevor ihre Beine gänzlich den Dienst versagen konnten, stürzte sie aus dem Raum und schlug die Tür heftig hinter sich zu. So schnell sie konnte, lief sie die Treppe hinauf in den Schlafsaal, und damit nur niemand ihr folgen konnte, verriegelte sie mit bebenden Fingern die Tür. Schwer atmend lehnte sie sich an die Wand und fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn. Sie fühlte sich zerschlagen, zertrampelt, gedemütigt, lächerlich gemacht, für alle Zeiten dem Spott der anderen preisgegeben. Wie konnte sie ihnen nur jemals wieder unter die Augen treten? Ach, und sie schämte sich ja auch vor sich, in Grund und Boden schämte sie sich. Natürlich, Miss Brande hatte recht. Was sie geschrieben hatte, war nur dummes Zeug gewesen, der übertriebene Gefühlsüberschwang einer Zwölfjährigen, ungefiltertes Zeug, von der Stimmung eines Augenblicks getragen, ohne noch einmal überdacht worden zu sein. Aber warum mußte sie ihr das auf diese Weise klarmachen? Wieso mußte die Lehrerin sie so tief in den Schmutz treten?
    »O Miss Brande, ich hasse Sie«, jammerte sie leise, »ich hasse
Sie so sehr, ich hasse Sie so furchtbar!« Sie drehte sich um und schlug mit der Faust hart gegen die Wand. Es gab einen dumpfen Laut, dann herrschte wieder vollkommene Stille. Wie sie diese Stille haßte, wie sehr dieses Zimmer mit seinen säuberlich aufgereihten Eisenbetten, wie sehr den heißen Augusttag draußen mit seinen sonnenbeschienenen grünen Blättern und goldfarbenen Kornfeldern. Und sich selbst, sich selbst auch! Sie trat zur Seite und sah in den Spiegel, der über dem Waschtisch hing. Ein blasses Gesicht, aber keineswegs von hübscher, vornehmer Blässe, sondern eher gelblich-fahl und ungesund. Fettige schwarze Haare, dabei hatte sie sie gestern erst gewaschen, doch das nützte in der letzten Zeit überhaupt nichts mehr. Gerötete Augen ohne jeden Glanz, ein komischer Mund. Sie hatte, wenn sie früher schöne Frauen beobachtete, meist dem Mund die größte Aufmerksamkeit geschenkt, denn in ihm konnte eine ungemein fesselnde Ausdruckskraft liegen. Sie fand, daß der Mund stärker noch als die Augen das Innenleben der Besitzerin offenbarte. Es gab spöttische Münder, überlegene, kluge, empfindsame, weiche, kalte, sanfte und dumme. Es gab Frauen, deren ganze sinnliche Ausstrahlung nur von einer bestimmten Schwingung der Lippen ausging, und solche wie Harriet, deren ganzes körperliches Leid sich in einem Schmerz offenbarte, der auf dem Mund lag. Nur sie selbst, das wurde Elizabeth klar, hatte im Grunde überhaupt keinen Mund, sondern nur ein Gebilde, das einfach gar nichts aussagte und dem ganzen Gesicht einen noch verschwommeneren Ausdruck verlieh, als es schon hatte.
    »Ich bin häßlich«, sagte sie leise zu ihrem Bild, »wirklich häßlich. Und dumm. Verdammte Miss Brande!«
    Sie fühlte sich sterbenselend. Das Leben war eine einzige Scheußlichkeit, bestehend aus dem Tod geliebter Menschen, dem Verlust alles Vertrauten, gehässigen Lehrerinnen, Versagen und einem Körper, den man als widerlichen Ballast herumschleppte. Ja, widerlich fand sie ihn, seit einigen Monaten schon konnte sie ihren Körper nicht mehr ausstehen. Er wurde schwammig und formlos und entbehrte jeglicher Proportion. Vielleicht griff Miss Brande sie an, weil sie sie auch so häßlich
fand und einfach nicht ausstehen konnte. Es wäre eigentlich gar nicht verwunderlich.
    Elizabeth blieb den ganzen Tag im Schlafsaal eingeschlossen und kam nicht heraus, als die Köchin zum Mittagessen rief. Natürlich trug ihr das einen scharfen Verweis von Miss Brande ein, aber er perlte an ihr ab. Sie konnte es ertragen, von einer Lehrerin heftig angefahren zu werden, aber sie würde es nie aushalten, sich vor einer Schar fremder Menschen demütigen lassen zu müssen. Ihre Angst vor jedem neuen Tag wuchs. Manchmal konnte sie abends stundenlang nicht einschlafen, weil sie sich in den glühendsten Farben die Schrecknisse des nächsten Morgens ausmalte. Miss Brande geisterte als Gespenst durch ihre Träume, und ihr Selbstbewußtsein versank in allertiefste Abgründe. Ihr Gefühl, immer und ewig zu versagen, wurde stärker. Das Wissen um die eigene Unzulänglichkeit wurde von dieser Zeit an für viele Jahre zum quälendsten Begleiter ihres Lebens. Es dauerte lange, bis sie den Alpdruck jenes Lebensabschnittes wieder abschütteln konnte: die Quälereien der alten Hexe, mit denen sie leben mußte, die nie völlig aus der Luft gegriffen waren und die sich verstärkten durch

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