Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
ihrer Verzweiflung und Angst? Davon, wie sie kämpfen müssen jeden Tag und wie trostlos ihr Leben und ihre Zukunft sind? Sie sitzen hier in Ihrem gepflegten, schönen, sauberen Haus und denken gar nicht darüber nach, daß die Welt auch ganz anders sein kann und daß, während Ihre Gedanken um die so tödlich wichtigen Probleme von Ordnung, Pflichtbewußtsein und Gelehrsamkeit kreisen, anderswo Menschen leiden und sterben!«
Bebend vor Aufregung hielt sie inne. Miss Brande hatte sich erhoben, und zum erstenmal, seit die Mädchen sie kannten, hatte sie ihre Unnahbarkeit verloren. Auf ihrem Gesicht malten sich Fassungslosigkeit und hilflose Wut. Nicht einmal ihre frechsten Schülerinnen hatten je so zu ihr gesprochen, überhaupt noch niemand auf der Welt hatte es gewagt.
»Was... erlaubst du dir?« brachte sie schließlich hervor und bemerkte, daß Elizabeth sie ohne Angst ansah. »Elizabeth Landale, das ist die größte Unverschämtheit, die ich... Du wirst auf der Stelle in dein Zimmer gehen und dich heute hier unten nicht mehr blicken lassen. Ich werde überlegen, welche Strafe dein... Benehmen nach sich ziehen wird!«
Elizabeth stand auf und lächelte verächtlich. So einfach war es also, Miss Brande aus der Fassung zu bringen. Ein paar Gedanken, die sie nie gedacht hatte und nie wagen würde zu denken, und schon blieb ihr nichts anderes, als ihre Überlegenheit nur noch dadurch zu beweisen, daß sie ihre Gegner aus dem Zimmer
schickte, weil ihr sonst nichts mehr einfiel. Und vor dieser Frau hatte sie sich fast zu Tode gefürchtet, war bereitwillig ihrer schleichend suggestiven Kraft erlegen, mit der sie ihre Schule und alles, was in ihr geschah, zum Mittelpunkt der Erde machte. Fast hätte sie dabei selbst vergessen, daß jenseits dieser Mauern die Welt auch ohne Miss Brande existierte. Aber ihr war genügend Klugheit geblieben, um zu wissen, daß John sie retten konnte, und genügend Tapferkeit, um seine Hilfe zu suchen. Während sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg, wußte sie, daß sie die kommenden Jahre überstehen und eines Tages dorthin zurückkehren würde, wo Frauen wie dieser alten Hexe keinerlei Bedeutung mehr beigemessen wurde.
Butchery Alley
1798
1
Im Stadthaus der Sheridys in London drängten sich die Menschen. Eine unübersehbare Schar schwarzgekleideter Leute bevölkerte alle Zimmer und Salons, Gläser balancierend und leise redend. Kein lautes Lachen war zu hören, kein Schmuck zu sehen, kein aufdringliches Parfüm zu riechen. Jeder benahm sich so, wie es der traurige Anlaß, der sie hier zusammengeführt hatte, gebot: am Vormittag hatten sie Lord Phillip Sheridy beerdigt und waren nun gekommen, um etwas Kühles zu trinken und gemeinsam des Toten zu gedenken.
Lord Sheridys Tod hatte jeden, der davon erfuhr, erschüttert. Kein alter, kranker Mann war hier gestorben, dessen Ende man hätte ahnen und voraussehen können, sondern ein Mann in der Mitte seines Lebens, gesund, lebhaft und tatkräftig. Sein Tod war sinnlos gewesen und schmählich dazu, denn nicht vor dem Feind war er gefallen, wie es das Herz eines jeden Engländers begehrte, sondern eine Schiffsfahrt auf der Themse hatte ihn das Leben gekostet. Während einer Feier auf dem Boot eines Freundes war er aus unerklärlichen Gründen plötzlich über Bord gestürzt und während der ungeschickten Rettungsbemühungen der anderen unter das Schiff geraten, so daß er, obwohl er schwimmen konnte, elend ertrank.
Harriet, der es in der letzten Zeit so weit besserging, daß sie ihren Mann nach London hatte begleiten können, brach bei der Nachricht von seinem Tod völlig zusammen. Ein Arzt mußte gerufen werden, weil ihre Tochter Joanna Angst hatte, sie werde den Schock nicht überleben. Ihr gesundheitlicher Zustand verschlechterte
sich in wenigen Tagen bedenklich. Dennoch wollte sie zunächst darauf bestehen, Phillips Leiche nach Norfolk zu bringen und ihn auf dem Familienfriedhof von Heron Hall beizusetzen. Es gelang Joanna nur mühsam, ihr diesen Plan auszureden. Sie machte ihr klar, daß der tote Körper in der glühenden Augusthitze völlig verwesen würde, ehe sie King’s Lynn erreicht hätten, und daß außerdem Harriet selbst den Strapazen nicht gewachsen wäre. Harriet, schwach, elend und halb wahnsinnig in ihrer Verzweiflung, gab schließlich nach. Es brach ihr fast ein zweites Mal das Herz, Phillip in fremder Erde bestatten zu lassen, wußte sie doch, daß ihn das beinahe mehr gekränkt hätte als der Tod selber. Weiß wie
Weitere Kostenlose Bücher