Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
besitzen. Später stellte Elizabeth fest, daß dreizehn Kinder in dieser winzigen Wohnung lebten.
Sie lernte Mrs. Sally Stewart kennen, eine kleine, zarte Frau, die schon wieder ein Kind erwartete. Als sie ihren dicken Bauch sah, mußte Elizabeth unwillkürlich an manchen Gesprächsfetzen denken, den sie früher von Phillip aufgeschnappt hatte.
»Das Volk ist an seinem Elend selbst schuld«, hatte er behauptet, »so wie sie sich verhalten, können sie gar nicht anders, als frühzeitig zu sterben!«
Warum müssen sie denn aber auch so viele Kinder kriegen, dachte Elizabeth, eine reiche Familie kann sich das leisten, eine so arme aber nicht!
Das größte Entsetzen sollte noch kommen. Als sie alle um den Tisch saßen oder zum Teil auch standen, mit Mr. und Mrs. Stewart, der Großmutter, John und Elizabeth insgesamt achtzehn Personen, bekam jeder von ihnen einen Löffel in die Hand gedrückt, aber keinen Teller vorgesetzt. Elizabeths Augen wurden groß vor ungläubigem Staunen, als Sally eine riesige Schüssel, gefüllt mit einem Gematsche aus Gemüse, in die Mitte des Tisches stellte und die ganze Familie, ohne das geringste Aufheben davon zu machen, gleichzeitig daraus zu essen begann. Sally nickte Elizabeth freundlich zu.
»Essen Sie, Miss Landale«, sagte sie, »es ist genug da.«
Elizabeth erwiderte das Lächeln und nahm sich einen Löffel aus der Schüssel. Ihr schreiender Hunger war wie verflogen. Aber sie konnte doch nicht so unhöflich sein und gar nichts essen! Widerwillig schob sie das Essen in den Mund. Es schmeckte herrlich, Sally mußte eine wunderbare Köchin sein. Ihr Magen, der bereits in wildem Aufruhr gewesen war, besänftigte sich etwas. Gerade wollte sie abermals zugreifen, da fiel ihr Blick auf die Großmutter, die soeben einen Bissen in den Mund geschoben hatte. Die Alte wackelte nachdenklich mit ihrem kahlen Kopf.
»Heiß«, murmelte sie. Sie öffnete ihren zahnlosen Mund und ließ weißliche, halbzerkleinerte Kartoffeln in die Schüssel zurückfließen. Eines ihrer Enkelkinder griff den Brei ungerührt auf und aß ihn. Elizabeth stieß ihren Stuhl zurück.
»Entschuldigung«, sagte sie hastig. Mit wenigen Schritten stürmte sie aus dem Raum und setzte sich draußen mit wackeligen Knien auf die Treppe. Auf ihrem Gesicht stand der Schweiß, der ganze Mund war in Sekundenschnelle trocken. Zitternd strich sie sich die Haare aus der Stirn. Lieber Himmel, wie schlecht wurde ihr, so schlecht wie nie zuvor im Leben! Das Bild der alten Frau ließ sie nicht los, dazu fiel nun der Gestank des alten Hauses mit aller Macht über sie her, und alle Wände begannen sich zu drehen. Aber sie wurde nicht ohnmächtig, obwohl
sie sicher kurz davor gestanden hatte. John war plötzlich neben ihr, und sie konnte sich an ihn lehnen.
»Elizabeth, du bist ganz weiß«, hörte sie ihn sagen, »und deine Lippen sind grau. Bist du krank?«
Sie schüttelte schwach den Kopf. Sie sah Sally, die sich mit besorgter Miene zu ihr hinabneigte.
»Sie müssen sich hinlegen, Miss Landale«, bestimmte sie sanft, »Sie sehen sehr schlecht aus.« Sie und John führten die schwankende Elizabeth wieder hinein, durch das Zimmer, in dem alle noch beim Essen saßen, in eine kleine Kammer. Hier stand ein Sofa, auf dem sich Elizabeth dankbar ausstreckte. Sally blieb bei ihr zurück.
»Wie konnte das geschehen?« fragte sie. Elizabeth seufzte.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe zu lange nichts mehr gegessen. Auf einmal war mir schrecklich schwach.«
Sally sah sie mitleidig an.
»Sie stammen wohl aus einer reichen Familie?«
»Ja. Uns ging es immer sehr gut.«
»Ihre Kleider verraten es. Sie können noch nicht lange am Tower wohnen.«
»Seit sieben Wochen.«
»Armes Kind. Diese Zeit muß sehr hart gewesen sein.«
»Ja, ein bißchen. Ich hatte mir das nicht so vorgestellt. Ich bin in diese Liebe mit John so schnell hineingestolpert, noch jetzt erscheint es mir unwirklich, so rasch ging alles. Ich habe mich von einem Tag auf den anderen in einer Welt wiedergefunden, von der ich zwar wußte, die mich bislang aber kaum berührt hat und die ich schon gar nicht kannte.«
»Und was wollen Sie jetzt tun?«
»Ich will unter allen Umständen bleiben. Wenn ich nicht verhungere, bleibe ich. Und ich will sogar noch mehr. Ich will alles loswerden, was mich mit meinem früheren Leben verbindet.«
»Ich weiß nicht, ob das gut wäre.«
»Es muß aber sein. John verachtet die Art, wie ich gelebt habe. Manchmal denke ich, er verachtet
Weitere Kostenlose Bücher