Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
geblieben, sondern bald nach Italien gegangen, wo sie sich in Rom niedergelassen und es nach einiger Zeit tatsächlich wieder zu Wohlstand gebracht hatten. Cynthia schrieb ihrer Familie regelmäßig und berichtete von glanzvollen Festen, an denen sie teilnahmen, und von Begegnungen mit reichen, berühmten Leuten. Weder Harriet noch Joanna wagten jemals, genauer nachzufragen, wie Anthony es erreicht hatte, abermals ein luxuriöses Leben aufzubauen, denn es erschien ihnen nur zu wahrscheinlich, daß er sich schon wieder jenseits aller Gesetze bewegte.
»Cynthia wird im August endlich ihr erstes Kind bekommen«, fuhr Harriet fort.
»Wie schön. Sicher sind Anthony und sie sehr glücklich!«
Harriet antwortete darauf nicht. Sie schloß nur müde die Augen.
»Ist heute abend nicht das Fest bei Edward Gallimore?« erkundigte sie sich.
»Ja, und ich werde hingehen«, sagte Joanna rasch.
»Natürlich, geh nur, Kind. Ich werde schon früh schlafen. Du mußt dich nicht um mich kümmern. Niemand muß sich um
mich kümmern. Ich bin nur eine arme, alte Frau, die allen zur Last fällt!«
»Unsinn, Mutter!« Joanna erhob sich. »Ich schicke Ihnen Edna, damit sie Sie ins Haus bringt«, sagte sie, »es wird kühler.«
Sie verschwand, ohne eine weitere Erklärung Harriets abzuwarten. Es gab Tage, an denen sie das ewige Gejammere nicht ertragen mochte, und sie wollte sich auch heute unter keinen Umständen dazu bewegen lassen, zu Hause zu bleiben und nicht zum Ball zu gehen. Es war ihr klar, daß Harriet genau das erreichen wollte und daß sie nun Stunde um Stunde größeren Druck ausüben würde.
An der Tür stieß Joanna beinahe mit ihrem dreizehnjährigen Bruder George zusammen, der in Reitkleidung an ihr vorüberstürmte.
»Sei leise, Mutter geht es nicht gut«, mahnte sie, »und reite nicht so wild!«
»Paß auf dich selber auf«, gab George zurück und jagte um die nächste Ecke. Joanna seufzte verärgert. George wurde unerträglich frech in der letzten Zeit. Immer mußte sie sich mit ihm streiten, weil Harriet sich zu schwach dazu fühlte.
Oben in ihrem Zimmer holte Joanna das Kleid aus dem Schrank, das sie heute abend tragen wollte. Sie und ihr einstiges Kindermädchen Agatha hatten es aus einem uralten Ballkleid gearbeitet, das Harriet in ihrer Jugend besessen hatte, und Joanna hoffte nur, es werde niemand dasein, der sich dessen erinnerte. Aber was auch geschah, der Ehrenplatz auf diesem Fest war ihr sicher, denn beim Dinner würde sie am Kopfende des Tisches neben Edward sitzen und später mit ihm den Ball eröffnen, als sei sie seine Verlobte.
Seit Jahren könnte ich Lady Gallimore sein, dachte sie.
Sie zog sich ohne fremde Hilfe an, kämmte sich nur flüchtig die Haare und legte, ohne lange auszuwählen, ihren Schmuck an. Manchmal staunte sie über ihr eigenes zwiespältiges Verhalten. Sie freute sich wochenlang auf einen Ball, nähte mit allem Eifer ein schönes Kleid, und wenige Stunden bevor er stattfinden sollte, befiel sie diese seltsame, schmerzhafte Gleichgültigkeit,
der sie sich immer wieder ausgeliefert sah. Mit heftigem Schwung warf sie ihre Bürste in eine Ecke und zog ihre Ballschuhe an. Sie mochte jetzt nicht nachdenken, sonst beschloß sie womöglich im letzten Moment, zu Hause zu bleiben. Ehe sie länger grübeln konnte, zog sie an der seidenen Schnur, mit der sie Agatha herbeiläutete. Sie sollte den Kutscher beauftragen, die Pferde einzuspannen und am Portal vorzufahren. Heute abend würde sie tanzen und Champagner trinken und jedem ins Gesicht lachen, der hinter vorgehaltenem Fächer über den schwindenden Reichtum der Sheridys und die seltsamen Krankheiten der Lady Harriet lästerte.
Die unzähligen Gäste, die im Park der Familie Gallimore die lampionbeleuchteten Kieswege entlangschlenderten, in blühenden Lauben saßen oder in den Sälen des Hauses an Marmorsäulen lehnten, redeten an diesem Abend vergleichsweise wenig über die Schwächen ihrer Mitmenschen, denn das Fest hatte seinen eigenen kleinen Skandal gleich zu Beginn bereits gehabt. Die Musikkapelle war so wagemutig gewesen, zur Eröffnung des Balls einen Walzer zu spielen, jenen neuen, modernen Tanz, über den man in England hitzig diskutierte. In konservativen Kreisen galt er als zutiefst kompromittierend, denn die Paare hielten sich dabei eng umschlungen, und während sie herumwirbelten, berührten sich ihre Körper ständig. Eine Gruppe älterer Damen verließ hocherhobenen Hauptes den Saal und das Fest, als die
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