Verbrannte Träume.
panische Angst hätte, ins Koma zu fallen. Die hatte ich auch, früher. Ich war alt genug, als der Arzt mir das erklärte. Ich wußte, was das Wort Koma bedeutet, und gewöhnte mich daran, immer Traubenzucker bei mir zu haben. In sämtlichen Jacken- und Manteltaschen trug ich Würfel mit mir herum, und daheim standen immer ein oder zwei Halbpfund-Pakete. Die beiden, die Ulli aus dem Schrank nahm, waren voll, sogar noch verschlossen. Meine eiserne Reserve! Und ich war an einem Punkt, an dem es mir reichte. Er hätte ja nicht beide Päckchen nehmen müssen. Das war der Gipfel. Er öffnete die Blechdose, riß die beiden Pakete auf.
»Was wird das, wenn es fertig ist?«
fragte ich, während er den Zucker in die Dose kippte, den Deckel wieder aufsetzte und festdrückte.
»Ich brauche es für ein Verkaufsgespräch.«
»Jetzt? Am Freitag abend? Das träumst du doch wohl nur. Stell das Zeug wieder hin. Du weißt genau, daß ich es brauche.«
»Reg dich nicht auf. Ich bringe es wieder mit zurück. Es tut mir leid, daß ich den Termin vergessen hatte. Ist eine wichtige Sache.«
»Das ist der Zucker für mich auch.«
»Jetzt werd’ nicht hysterisch«, fuhr er mich an, obwohl ich ruhig gesprochen hatte.
»Es frißt ihn dir keiner weg. Ich mache nur eine kleine Präsentation damit. Sieht besser aus, wenn etwas in der Dose ist.«
»Dann kipp dir doch Mehl rein! Oder Rosinen!«
schrie ich.
»Du hast sie wohl nicht alle. Der Zucker bleibt hier! Und du bleibst auch hier, verdammt noch mal! Ich bin die ganze Woche allein gewesen, während du deine Dosen an den Mann gebracht hast. Und eben hast du mir noch erzählt, daß es sehr viele waren. Das reicht bis Montag.«
So hatte ich noch nie mit ihm gesprochen. Aber er war nicht verärgert oder erstaunt. Er tippte sich an die Stirn und ging ins Wohnzimmer. Die Dose nahm er mit, als ob er befürchtete, ich würde ihm den Zucker wegnehmen. Ich hörte ihn mit dem Telefon hantieren, dann hörte ich ihn reden. Den wichtigen Termin, den er angeblich vergessen hatte, mußte er erst noch vereinbaren. Er sprach mit einem gewissen Rene. Der Name kam mir bekannt vor, aber mir fiel nicht ein, wo und in welchem Zusammenhang ich ihn gehört hatte. Von Ulli jedenfalls nicht. Er sprach mit mir nicht über seine Freunde oder Kunden. Und eins von beidem war Rene, er war wohl beides. Zuerst war es nur allgemeines Gerede, ein paar Floskeln. Bin wieder im Lande und dachte, ruf mal an. Dann wurde Ulli konkreter, bat Rene um einen Gefallen oder schlug ihm ein Geschäft vor, was auf dasselbe hinauslief. Ich verstand nicht jedes Wort, weil Ulli sehr leise sprach. Aber so viel verstand ich, daß Rene ihm eine größere Menge von einer Ware abnehmen sollte. Begeistert schien er nicht. Je länger ich zuhörte, um so mehr gewann ich den Eindruck, daß mit diesem Geschäft etwas nicht in Ordnung war, besser gesagt, nicht legal. An einer Stelle erklärte Ulli nachdrücklich:
»Wenn ich dir sage, daß es nichts mit den offiziellen Lieferungen zu tun hat, daß ich nirgendwo etwas abgezweigt habe, auch nicht in kleinen Mengen, kannst du das glauben. Für so bescheuert wirst du mich nicht halten, ich bin nicht lebensmüde. Ich habe ein kleines Geschäft auf private Rechnung gemacht, das ist nicht verboten. Ich war kürzlich in Holland, es war ein günstiges Angebot. Ich hatte auch einen Abnehmer, aber der will nicht den gesamten Posten. Ich dachte, du hättest vielleicht Interesse. Aber wenn du nicht willst, es war nur ein Vorschlag. Überleg es dir in Ruhe. Ich kann jederzeit liefern, sagen wir fünfhundert für den Anfang. Zu einem vernünftigen Preis, versteht sich. Es ist erstklassige Ware, du wirst zufrieden sein und deine Kunden ebenfalls.«
Ich erinnere mich genau, daß er das so sagte. Ich weiß auch noch, daß ich plötzlich die Stimme meines Vaters im Kopf hatte.
»Mir kann kein Mensch erzählen, daß der sein Geld mit ehrlicher Arbeit verdient.«
Mir war komisch in dem Augenblick. Ich hatte mich nie um Ullis Geschäfte gekümmert. Nur immer von ihm gehört, daß sie gut liefen. Er war nicht darauf angewiesen, fünfhundert Blechdosen am Finanzamt vorbeizuschmuggeln. Bevor er den Hörer auflegte, erklärte Ulli:
»Unsinn, Mann, du bekommst keinen Ärger, dafür garantiere ich. Du mußt nur den Mund halten. Wir reden gleich in Ruhe über alles. Wir treffen uns in der Klause. Ich mache mich sofort auf den Weg. Also, bis später.«
Dann kam er zurück in die Küche. Die Dose hielt er in der
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