Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)
eben erst vom Unglück erfahren hatte und herbeigelaufen kam, um Ordnung zu schaffen. Sie war eine außerordentlich dumme und unordentliche Deutsche.
»Ach, mein Gott!« rief sie und schlug die Hände zusammen. »Ihren Mann betrunken hat Pferd zertreten. Er ins Krankenhaus! Ich bin die Wirtin!«
»Amalia Ludwigowna! Ich bitte Sie, sich zu überlegen, was Sie sagen«, begann Katerina Iwanowna hochmütig (mit der Wirtin sprach sie immer hochmütig, damit jene sich nicht vergesse, und auch jetzt konnte sie sich dieses Vergnügen nicht versagen) – »Amalia Ludwigowna ...«
»Ich Ihnen einmal für immer gesagt, daß Sie niemals wagen, mich Amalia Ludwigowna nennen; ich bin Amalia Iwanowna!«
»Sie sind nicht Amalia Iwanowna, sondern Amalia Ludwigowna, und da ich nicht zu Ihren gemeinen Schmeichlern gehöre, wie der Herr Lebesjatnikow, der jetzt hinter der Tür lacht (hinter der Tür hörte man wirklich Lachen und die Worte: ›Da sind sie sich wieder in die Haare geraten!‹), so werde ich Sie immer Amalia Ludwigowna nennen, obwohl ich unmöglich begreifen kann, warum dieser Name Ihnen mißfällt. Sie sehen ja selbst, was Ssemjon Sacharowitsch zugestoßen ist; er stirbt. Ich bitte Sie, diese Tür sofort zu schließen und niemand hereinzulassen. Lassen Sie ihn wenigstens ruhig sterben! Sonst wird Ihre Handlungsweise morgen dem Generalgouverneur bekannt, das versichere ich Ihnen! Der Fürst hat mich als junges Mädchen gekannt und erinnert sich gut Ssemjon Sacharowitschs, dem er schon oft seine Wohltaten erwiesen hat. Es ist allen bekannt, daß Ssemjon Sacharowitsch viele Freunde und Gönner hatte, denen er selbst aus edlem Stolz den Rücken gekehrt hat, da er sich seiner unglücklichen Schwäche bewußt war; aber jetzt (sie wies auf Raskolnikow) hilft uns ein großmütiger junger Mann, der Mittel und Verbindungen besitzt und den Ssemjon Sacharowitsch schon als Kind gekannt hat; – ich versichere Ihnen, Amalia Ludwigowna ...«
Dies alles wurde mit außergewöhnlicher und immer anwachsender Hast gesprochen, doch der Husten unterbrach mit einemmal den Redefluß Katerina Iwanownas. In diesem Augenblick kam der Sterbende zu sich und stöhnte auf, und sie lief zu ihm hin. Der Kranke öffnete die Augen und fing an, ohne jemand zu erkennen und ohne etwas zu verstehen, den über ihn gebeugten Raskolnikow zu betrachten. Er atmete schwer, tief und langsam; an den Mundwinkeln zeigte sich Blut; Schweiß war ihm in die Stirne getreten. Er erkannte Raskolnikow nicht und fing an, unruhig um sich zu blicken. Katerina Iwanowna sah ihn traurig, doch streng an, während aus ihren Augen die Tränen liefen.
»Mein Gott! Seine ganze Brust ist ja eingedrückt! Das viele Blut, das Blut!« rief sie verzweifelt. »Man muß ihm die Kleider ausziehen! Dreh dich etwas um, Ssemjon Sacharowitsch, wenn du kannst!« rief sie ihm zu.
Marmeladow erkannte sie.
»Einen Geistlichen!« sagte er mit heiserer Stimme.
Katerina Iwanowna trat ans Fenster, drückte ihre Stirn an den Fensterrahmen und rief verzweifelt:
»O dieses dreimal verfluchte Leben!«
»Einen Geistlichen!« sagte der Sterbende wieder nach einer minutenlangen Pause.
»Man ist doch schon hingegangen!« schrie ihm Katerina Iwanowna zu; er hörte den Schrei und verstummte. Mit scheuen, traurigen Blicken suchte er sie; sie kehrte zu ihm zurück und stellte sich ihm zu Häupten hin. Er wurde etwas ruhiger, doch nicht für lange.
Seine Augen blieben bald auf der kleinen Lidotschka (seinem Liebling) haften, die in der Ecke wie im Krampfe zitterte und ihn mit ihren erstaunten, kindlich aufmerksamen Augen ansah.
»Ah ... ah ...« lallte er voll Unruhe auf sie weisend.
Er wollte etwas sagen.
»Was ist denn?« schrie ihn Katerina Iwanowna an.
»Barfuß? Sie ist barfuß!« murmelte er, mit wahnsinnigen Blicken auf die bloßen Füßchen des Kindes zeigend.
»Schweig!« schrie Katerina Iwanowna gereizt. »Weißt selbst, warum sie barfuß ist!«
»Gott sei Dank, der Arzt!« rief Raskolnikow erfreut.
Herein trat der Arzt, ein sauber gekleidetes altes Männchen, ein Deutscher; mißtrauisch um sich blickend, ging er auf den Kranken zu, fühlte seinen Puls, betastete aufmerksam seinen Kopf, knöpfte ihm mit Hilfe Katerina Iwanownas das blutdurchtränkte Hemd auf und entblößte die Brust des Kranken. Die ganze Brust war zerquetscht, zerdrückt und zerrissen; mehrere Rippen rechts waren gebrochen. Links, dicht über dem Herzen, war ein unheimlicher, großer, gelblich schwarzer Fleck – die
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