Verdacht auf Mord
denn eigentlich hatte sie Hunger auf etwas Richtiges oder wenigstens auf ein Butterbrot oder eine Bockwurst. Sie wagte es jedoch nicht, noch rasch zu der Wurstbude etwas weiter die Straße hinunter zu eilen, denn es ging bereits auf halb vier zu, und sie wusste, dass ihre Mutter gerade an diesem Tag vermutlich nicht würde warten wollen.
Wie sie so dastand, nahm sie mit einem Mal die Welt um sich herum wahr. Lange war sie von einer betäubenden Unentschlossenheit wie von einem grauen Nebel umhüllt gewesen. Jetzt nahm sie eine aufrechte Haltung an und winkte ein paar Bekannten zu. Sie hatte ihr schwarzes Haar törtchenförmig am Hinterkopf zusammengebunden. Schick, hatte einer der Assistenzärzte gemeint. Obwohl es Gustav gewesen war, hatte sie sich geschmeichelt gefühlt. Er konnte manchmal richtig süß sein. Sie schämte sich, dass sie so ungeduldig mit ihm gewesen war. Und dass sie hinter seinem Rücken so schlecht über ihn geredet hatte. Er hatte gesagt, sie erinnere ihn an jemanden, allerdings nicht aufgrund ihrer Haarfarbe und Augen, sondern mehr vom Typ her. Das hatte sie verlegen und neugierig gemacht.
»An wen denn?«
Sie hatte sich diese Frage nicht verkneifen können. Er hatte sie ironisch angelächelt.
»Das ist mein Geheimnis.«
Kann mir doch egal sein, hatte sie gedacht, es aber trotzdem interessant gefunden, dass er offenbar eine Frau kennengelernt hatte.
Sie drehte sich um. Ob ihre Mutter wohl aus der Richtung des Doms käme? Nein. Stattdessen sah sie Karl, der sich vor einer Kneipe namens Kino mit ein paar Leuten unterhielt. Rasch wandte sie sich ab und senkte den Blick. Sie wollte wirklich nicht, dass er sie sah. Karl war Leos Freund, und sie ging Leos Freunden aus dem Weg. Sie glaubte zwar nicht, dass Karl sich eingemischt hätte, sondern sie schämte sich eher, wie unbegründet das auch sein mochte. Leo war vollkommen übergeschnappt. Das war ihr klar geworden, als sie ihn in der Klinik getroffen hatte, um ihm den Schlüssel zurückzugeben. Er wollte die Wohnung im Stadtteil Djingis Khan behalten. Er schlief und aß nicht mehr, und das erstaunte sie wirklich. So wichtig war sie ihm nicht gewesen, als sie noch zusammengewohnt hatten. Jedenfalls hatte es nicht so gewirkt. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, ihr zuzuhören, und das meiste als selbstverständlich hingenommen. Aber jetzt war er beleidigt, und sie stand da mit zwiespältigen Gefühlen. Es war wirklich nicht schön, dass es ihm so schlecht ging. Gleichzeitig war sie froh, sich von dieser ganzen negativen Energie losgelöst zu haben. Keine Gnade und kein Humor, nur egozentrischer Ernst und dann natürlich seine Arbeit. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass auch sie Pläne für die Zukunft haben könnte.
Das graue Haar ihrer Mutter war sehr kurz. Sie näherte sich auf dem Rad von der Lilla Fiskaregatan her und schlängelte sich gerade zwischen den Passanten der Fußgängerzone hindurch. Ihre dunkelrote Jacke passte gut zu ihrem Haar.
»Hallo, mein Mädchen.«
Sie hüpfte vom Sattel und quetschte das Rad in den Fahrradständer.
»Hier ist der Schlüssel. Papa und ich fahren morgen in der Früh. Aber wir können doch noch einen Moment irgendwohin gehen?«
Sie überquerten die Straße, betraten das Herkules und bestellten zwei Cappuccinos. Die aufgeschäumte Milch dämpfte ihren Hunger ein wenig. Die Wurst würde sie später essen.
Ester hatte sich entschlossen, etwas Eigenes zu finden, konnte sich aber keine Eigentumswohnung leisten. Ihre Eltern hatten ihr versprochen, ihr finanziell unter die Arme zu greifen. »Vorerbe« hatten sie es genannt. Sie hatte sich jedoch noch nicht die Zeit genommen, sich Wohnungen anzusehen. Sehr vorübergehend wohnte sie auf der Couch bei einer guten Freundin, aber das ging natürlich nicht auf Dauer. Jetzt würde sie zu Hause wohnen, dort allerdings nicht wieder einziehen. Sie mochte ihre Eltern, und es würde sicher auch eine Weile lang unter demselben Dach funktionieren. Aber sie wollte ihr Verhältnis nicht längerfristig dieser Belastungsprobe aussetzen. Sie hatten im Obergeschoss ein Gästezimmer, aus dem ihre Mutter gerade erst das Gerümpel ausgeräumt hatte.
»Wird schon alles gut gehen«, sagte sie und strich Ester über die Hand.
Ester starrte in ihre Kaffeetasse.
»Ich mache mir keine Sorgen.«
Sie hatte ihre Möbel noch nicht bei Leo abgeholt, aber ein Kollege, der ein großes Auto besaß, hatte versprochen, ihr am Wochenende damit zu helfen.
»Du kannst alles einstweilen in
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