Verdacht auf Mord
flammten die Tragik und natürlich auch ihr Interesse von neuem auf, da sie indirekt in die Ermittlung einbezogen wurde. Sie hatte niemanden, dem sie sich hätte anvertrauen können. Sie schwieg wie ein Grab, das hatte sie Claesson versprochen. So gesehen, war es fast eine Erleichterung, diesen Polizisten wieder zu treffen. Mit ihm konnte sie reden. Aber das war nicht unproblematisch. Sie achtete sehr darauf, keine Mutmaßungen anzustellen und keine Gerüchte zu verbreiten. Sie versuchte, auseinanderzuhalten, was sie gehört hatte und was sie konkret wusste. Das war nicht immer ganz leicht.
Die Geschichten, die ihr in letzter Zeit zu Ohren gekommen waren, klangen unglaublich und unwahrscheinlich. Die schlimmsten konnte man leicht aussortieren. Unerklärliches geschah jedoch immer wieder, dafür gab es Beispiele. Das, was man sich nach Bodéns Tod über ihn erzählte, war, gelinde gesagt, unterschiedlichster Art. Wer hätte dem faden Bodén zugetraut, in jedem Dorf eine Braut zu haben? Oder dass er jahrelang mit der jugoslawischen Mafia zusammengearbeitet hatte und durch Aktienspekulation unermesslich reich geworden war? Sie glaubte das jedenfalls nicht. Letzteres konnte jedoch durchaus stimmen. Aktiengeschäfte waren mittlerweile in den verschiedensten Kreisen ein normales Hobby. Aber dass man ihn des Geldes wegen ermordet haben sollte, wirkte zu simpel. Fast trivial. Wem wäre das Geld zugefallen? Seiner Frau vielleicht? Der Täter, eine Frau. Dieser Gedanke munterte sie auf.
Sie waren zu zweit. Claesson hatte einen, wie ihr schien, sehr jungen Mann dabei.
»Peter Berg«, stellte er sich mit einem festen Händedruck vor.
Er war bleich und sah nett aus. Sie bot einen Kaffee an, den sie dankbar annahmen, wie auch die Vanillekekse, die sie in einer Dose im Bücherregal versteckt hatte.
Claesson legte ihr unverzüglich das Klassenfoto vor, von dem er ihr bereits erzählt hatte. Dreißig Jugendliche, gestochen scharf. Sie setzte die Lesebrille auf, die an einer lila Schnur um ihren Hals hing, und betrachtete das Foto eingehend. Sie ließ sich Zeit und hörte dabei, wie der Jüngling Berg die knusprigen Vanillekekse verzehrte.
»Nehmen Sie ruhig«, sagte sie und schob ihm die ganze Dose hin. Sie folgte den aufgereihten Gesichtern mit ihrem weinroten Zeigefingernagel. Den Frisuren war anzusehen, dass inzwischen ein paar Jahre vergangen waren. Die Jungen trugen die Haare im Nacken lang, und die Mädchen hatten fast alle eine Art Afrolook. Alle außer Melinda Selander. Sie hob sich durch ihre anmutige, aber auch verschlossene Art ab. Große Augen und ein kleiner, geschlossener Mund. Wie eine Kirsche. Das halbe Gesicht wurde von ihrem blonden Haar verdeckt. Es war kräftig und schien ihr fast bis zur Taille zu reichen. Alle blickten mit großem Ernst in die Kamera, als fürchteten sie sich vor dem Leben, das ihrer harrte. Zwei Jungen bildeten die Ausnahme. Sie schnitten Grimassen und fuchtelten mit den Händen.
So war es immer. Einige versuchten stets in jugendlichem Trotz aus der Normalität auszubrechen.
»Das hier wird nicht so schwer«, meinte sie optimistisch. »Schauen Sie, ich habe die Fotos aller drei Klassen herausgesucht, die Melinda Selander hier auf dem Gymnasium besuchte, und dazu die Namenslisten.«
Claesson war dankbar. Diese Frau hatte alles im Griff.
»Melinda Selander wechselte übrigens im letzten Schuljahr die Klasse. Das ist zwar nicht gerade üblich, kommt aber hin und wieder schon einmal vor«, fuhr sie fort.
Sie sah nach, um welche Schuljahre es ging, und begann in den Schülerlisten zu blättern.
»Hier haben wir sie. Melinda Selander.«
Sie verstummte.
»Jetzt erinnere ich mich«, sagte sie plötzlich.
Sie betrachtete die ernsten Gesichter erneut.
»Ich war damals noch nicht Oberstudiendirektorin, sondern erst Studiendirektorin.« Sie verstummte abrupt.
»Woran denken Sie?«
Claessons Blick war durchdringend.
»Dass das, was damals geschah, nicht ganz greifbar war und nie aufgeklärt wurde. So etwas bleibt im Gedächtnis hängen. Die Fantasie erhält dadurch zu viele Möglichkeiten.«
»Erzählen Sie.«
»Bodén selbst äußerte sich nicht sonderlich ausgiebig dazu. Er ließ die Beschuldigungen und das, was er als Lügen bezeichnete, gar nicht erst an sich heran und wurde noch verschlossener und unzugänglicher. All jene, die ihn besser kannten, erzählten, wie sehr er sich gekränkt fühlte. Melinda Selander, vielleicht waren es auch ihre Eltern, warfen ihm sexuelle Nötigung
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