Verdacht auf Mord
beginnen, damit er ihr auch zuhörte? Ohne sauer zu werden? Glaubte sie wirklich an die erwachsene Vernunft? An Worte, Diskussionen, Versöhnungen und Abmachungen? An ihrem Arbeitsplatz waren Worte irgendwie heilig. Mit ihnen ließ sich alles klären. Wir müssen darüber sprechen. Wieso hat denn niemand was gesagt? Was denn, lass uns doch einfach darüber reden. Reden, reden, reden. Aber war es wirklich so einfach? Warum sprachen sie dann nie richtig miteinander? Und was war mit allem, was sich nicht in Worte fassen ließ? Was verletzte und schmerzte? Was üble Schwingungen und einen Schlaf, holprig wie Kopfsteinpflaster, hervorrief. Gewisse Menschen bedienten sich einfach, egal, was sie sagten. Leo beanspruchte seinen Platz, ungeachtet dessen, was sie sagte oder unternahm. Es gelang ihnen auch nicht, Gerechtigkeit irgendwie abzumessen. Solche Messinstrumente existierten schließlich nicht. Wäre es etwa möglich, sich gemeinsam darauf zu einigen, zu Hause überhaupt nicht mehr über die Arbeit zu sprechen?
Konnte sie sich damit abfinden, weniger wert zu sein? Ungefähr so, wie wenn die Ärzte der Klinik sich plötzlich über sie hinweg unterhielten, wenn ein anderer Arzt dazukam?
Recht rasch hatte sich dieser recht unangenehme und graue Nebel zusammengebraut. Innerhalb weniger Wochen.
Dabei waren sie doch glücklich gewesen!
Und was schlimmer war: Er schien es gar nicht gemerkt zu haben. Aber wenn er dann zu guter Letzt doch begriffen hatte, wie sauer sie war, wenn sie ihn geweckt hatte und die Fetzen geflogen waren, da hatte sie auf einmal keine Lust mehr gehabt. Er war wütend und gekränkt gewesen, und sie hatte einen trockenen Mund bekommen und versucht, alles wiedergutzumachen, hatte seinen nackten Oberkörper umarmt, ihren Kopf an seinen Hals gelegt und war eingeschlafen, während er ihr wie einem Kind über den Kopf gestrichen hatte.
Sie war nicht dazugekommen, ihm zu erzählen, dass sie Cecilias Mutter begegnet war. Das Timing hatte nicht gestimmt. Außerdem wusste sie, dass er ihr nur zuhörte, wenn er Lust hatte. War es nicht spannend genug, dann konnte er einfach mitten in einem Satz aufstehen und den Fernseher einschalten. Und das ertrug sie nicht.
Die Aufgabe der Untergeordneten ist es hinterherzudackeln. So sah die Rollenverteilung aus. Und herumzuquengeln. Wie die eigene Mutter. So wollte sie nicht werden.
Sie dachte, dass sie Cecilias Mutter gerne wiedersehen wollte. Sie war nett und besaß klare und deutliche Konturen. Und außerdem war sie bereits, was Leo erst noch zu werden wünschte, Chirurgin.
Die Morgenbesprechung war vorüber.
Danach tranken die Ärzte in dem kleinen Personalzimmer noch einen Kaffee im Stehen. Ein Zwei-Minuten-Trunk, dann verteilten sie sich auf die verschiedenen Stationen der Frauenklinik.
Er traf als Letzter ein, hatte noch nicht gelernt, dass es rasch zu sein galt, die Kanne war also bereits leer, als er sich seinen Kaffee eingießen wollte. Verdutzt warf er seinen Pappbecher in den Mülleimer, verließ das Gedränge und trat auf den Korridor. Dort wartete er brav auf den Chefarzt, den er begleiten sollte, einen gutgelaunten und sportlichen Fünfundvierzigjährigen, der nie plötzliche Kreuzverhöre veranstaltete, um sein Wissen zu überprüfen, wie gewisse andere, die von sich behaupteten, nur sein Bestes zu wollen.
Einen großen Teil des Arbeitstages verbrachte er damit zu lavieren, nie etwas in Frage zu stellen, wozu er auch keinerlei Veranlassung hatte. Dafür war er noch viel zu grün. Der Trick war, genau die richtige Dosis Interesse an den Tag zu legen, immer dabei zu sein, ohne zu klammern, und Fragen zu stellen, aber nicht zu oft. Es galt also einen Drahtseilakt zu vollführen, nach dem er jeden Abend todmüde ins Bett fiel.
Es gab auch anderes, was ihn beschäftigte, aber diese Gedanken schob er von sich. Er musste sich auf seine anspruchsvolle Arbeit konzentrieren, die kribbelnd und aufregend war, aber auch gefährlich und ihm wirklich Angst einflößte.
Nichts durfte je schiefgehen.
Er wartete also. Die Neonröhren spiegelten sich in dem frisch gebohnerten, grauen Linoleumfußboden. Der Korridor war lang. Die Türen führten zu den Büros der Ärzte. Ganz hinten lag der Vorlesungssaal.
Der Chefarzt würde auf sich warten lassen. Die Diskussion im Personalzimmer, die weit über seinem Anfängerniveau lag, war hitzig. Sehnsüchtig betrachtete er die Grüppchen von Ärzten, die eifrig wichtige Fragen besprachen, während sie auf die Glastür zum
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