Verdacht auf Mord
einem Haufen frisch gewaschener Laken ins Haus.
Vielleicht hört er, was die Frau dann zu dem Mann dort drinnen in dem fremden Haus mit den vielen düsteren Zimmern sagt.
»Ich frage mich, wie lange er eigentlich noch bei uns bleiben soll.«
Die Worte klingen unfreundlich. Die Antwort des Mannes ist nicht zu hören. Vielleicht schweigt er auch.
»Mein Gott, was für verantwortungslose Leute!«, fährt sie missvergnügt fort.
Hört der Junge das, obwohl es nicht für seine Ohren bestimmt ist?
Oder ist es vielleicht sogar ihre Absicht, obwohl nicht ganz vorsätzlich. Sie will, dass er, ein kleiner Junge, begreift, was er ihr zumutet. Dass sie wütend und aufgebracht ist. Richtiggehend außer sich.
Dass es so verantwortungslose Eltern gibt !
Die sich nicht um ihre eigenen Kinder kümmern . Und sie muss es ausbaden.
Schließlich kann sie auch nicht nein sagen, wenn das arme Kind bereits auf der Schwelle steht.
Neuntes Kapitel
Sonntag, 8. September
N ina Bodén hatte keinen der über das Wochenende ausgeliehenen Videofilme anschauen können. Oder nur Ausschnitte davon. Im Übrigen war sie im Haus herumgetigert.
Erst hatte sie es mit einem amerikanischen und recht vorhersehbaren Liebesfilm, dann mit einem recht exzentrischen japanischen Film über die subtile und zurückhaltende Brutalität der Samurai versucht. Recht bald war ihr klar geworden, dass sich beide nicht für eine Frau mittleren Alters eigneten, die glaubte, gerade ihren Mann verloren zu haben. Was hatte sie auch erwartet? Eine vergebliche Flucht.
Einfach weg!
Nach zweiunddreißig Jahren. Sie hatte bereits nachgerechnet. Sie hatten immerhin noch ihre Silberhochzeit gefeiert. Aber was wurde aus der goldenen?
Es waren viele, ereignisreiche Jahre gewesen. Und danach langsame, anstrengende.
Bestürzt stellte sie fest, dass er ihr schon lange nicht mehr so gefehlt hatte wie jetzt. Sie hatte eher vorgehabt, ihn sich vom Hals zu halten und ihn ganz und gar nicht zu vermissen. Sie hatte sich auf neue Abenteuer einlassen wollen. Es war ihrer Meinung nach eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen.
Das Leben war viel zu kurz, um es auf triviale Dinge zu vergeuden. Das war ihr schon länger klar gewesen und mit der Zeit deutlicher geworden. Bald würde sie den Mut haben, sich herauszukatapultieren.
Bald.
Aber das Bewusstsein, überhaupt nicht zu wissen, wo er sich aufhielt, türmte sich jetzt wie eine graue Mauer vor ihr auf. Sie war ausgeschlossen worden. Zum ersten Mal vollkommen allein. So hatte sie sich das Ganze nicht gedacht.
Dieser Typ! Wo zum Teufel steckte er?
Sie starrte aus dem Fenster. Schönes Wetter natürlich. Schade nur, dass sie nicht rausgehen konnte, dass sie nicht rausgehen wollte.
Hatte ihm jemand etwas angetan? Ihr Zorn verwandelte sich rasch in Besorgnis. Sie sah sein schmerzverzerrtes Gesicht vor sich und verspürte ein Gefühl der Zärtlichkeit, das sie sich kaum zugetraut hätte und erstaunlicherweise als angenehm empfand. Sie jammerte leise, während ihr die Tränen über die Wangen liefen, und schlug mit den Handflächen gegen die Wand. Sie kam sich vor wie ein Kind. Wem konnte sie sich jetzt anvertrauen?
Und gegen wen sollte sie ihre Wut richten?
Immerhin ließ sie jetzt Gefühle zu. Die Dämme barsten. Sie weinte und ließ sich gehen.
So taff bin ich also nicht, dachte sie, schnäuzte sich und kühlte ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Schließlich könnte jemand kommen. Sie musste natürlich nicht aufmachen, aber trotzdem. Vielleicht klopfte ja die Polizei an. Sie hegte zwar ihre Zweifel, die schienen sich ja nicht gerade ein Bein auszureißen, aber man konnte nie wissen. Irgendwann musste diese Sache schließlich ein Ende nehmen. Irgendeinen Bescheid würde sie früher oder später ganz sicher erhalten.
Aber was sollte sie unterdessen tun?
Sie unternahm einen letzten, verzweifelten Versuch, sich zu zerstreuen, legte das dritte Video ein und setzte sich mit der Fernbedienung in der Hand kerzengerade aufs Sofa. Schöne Bilder. Eine arme irische Familie, die mithilfe einiger unfruchtbarer Äcker ihr Dasein fristete, hatte es auf dem Klappentext geheißen. Wieso hatte sie diesen Film überhaupt ausgeliehen? Vielleicht weil sie nach einem Inhalt suchte, der überhaupt nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun hatte. Eine andere Art Elend. Nichts, was sich irgendwie mit ihrem eigenen Unglück verwechseln ließe.
Aber der Versuch war vergebens. Alles war grau und furchtbar. Hätte sie nicht etwas Lustigeres ausleihen können?
Weitere Kostenlose Bücher