Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
und die Hälfte davon übriggeblieben ist.«
»Vielleicht ist er in Panik geraten.«
»Die Identität eines Menschen anhand seiner Brieftasche oder seines Führerscheins festzustellen ist leicht, aber anhand von Schuhen und Kleidung? Das Risiko, die Leiche zu entkleiden, ist doch ungleich größer. Eigentlich ist ein Mörder doch bestrebt, den Tatort so schnell wie möglich zu verlassen.«
»Was willst du damit sagen? Dass er die Leiche aus einem anderen Grund ausgezogen hat?«
»Ich weiß nicht. Doch wenn es ihn gibt, werdet ihr den Mörder nicht kriegen, bis ihr ihn herausgefunden habt.« Yukawamalte mit dem Finger ein großes Fragezeichen auf die Illustration.
Die mathematischen Leistungen der Klasse 3 bei der Jahresabschlussprüfung in der 11. Klasse waren erbärmlich. Aber nicht nur Klasse 3 war eine Katastrophe. Der ganze Jahrgang hatte miserabel abgeschnitten. Mitunter kam es Ishigami vor, als würden die Schüler von Jahr zu Jahr schlechter. Während er die Arbeiten zurückgab, kündigte er die Termine für die Nachprüfung an. Die Schule hatte für alle Fächer eine Mindestpunktzahl bestimmt, und wer sie nicht erreichte, wurde nicht versetzt. Natürlich versuchte man, dies zu verhindern, indem man immer wieder Nachprüfungen veranstaltete, so dass wirklich nur die hoffnungslosesten Fälle eine Klasse wiederholen mussten.
Unzufriedenes Murren erhob sich. Es war immer dasselbe, und Ishigami ignorierte die Proteste, aber eine Äußerung drang doch zu ihm durch.
»Es gibt doch bestimmt Universitäten, für die man keine Aufnahmeprüfung in Mathe machen muss? Wieso soll man dann überhaupt Mathe machen?«
Ishigami sah in die Richtung, aus der die Stimme kam. Der Schüler hieß Morioka. Er kratzte sich am Kopf und sah sich beifallheischend in der Klasse um. Er war klein, aber Ishigami wusste, dass er als Anführer galt. Morioka war schon mehrfach verwarnt worden, weil er gegen die Vorschrift mit dem Motorrad in die Schule gekommen war.
»Wirst du denn auf eine solche Uni gehen, Morioka?«, fragte Ishigami.
»Ich habe sowieso keine Lust auf Uni, aber wenn ich gehe, dann bestimmt auf eine ohne Matheprüfung. Außerdem wähleich Mathe nächstes Jahr ab, also ist die Note doch egal. Es ist doch auch für Sie blöd, Herr Ishigami, wenn Sie Schwachköpfe wie mich unterrichten müssen. Vielleicht könnten wir ein Abkommen schließen. Unter Männern.«
Das schienen alle komisch zu finden und lachten. Auch Ishigami stieß ein trockenes Lachen aus. »Wenn du so besorgt um mich bist, dann besteh doch einfach die Nachprüfung. Es geht nur um ein bisschen Differential- und Integralrechnung. Keine große Sache.«
Morioka schnalzte geräuschvoll mit der Zunge.
»Was soll ich denn mit Integralrechnung? Reine Zeitverschwendung.«
Ishigami hatte sich bereits der Tafel zugewandt, um einige Aufgaben aus der Jahresabschlussarbeit zu erläutern, drehte sich aber nach dieser Äußerung wieder um. So etwas konnte er nicht durchgehen lassen.
»Ich habe gehört, du interessierst dich für Motorräder, Morioka. Hast du schon mal ein Rennen gesehen?«
Verblüfft über die plötzliche Frage, nickte Morioka.
»Die Rennfahrer fahren doch nicht immer im gleichen Tempo, sondern ändern ihre Geschwindigkeit ständig entsprechend der Beschaffenheit der Piste, der Windrichtung, ihrer Wettkampfstrategie und so weiter, ja? Sie müssen in Bruchteilen von Sekunden entscheiden, wann sie langsamer und wann sie schneller werden müssen, um zu gewinnen. Verstehst du das?«
»Ja, natürlich. Aber was hat das mit Mathematik zu tun?«
»Die Beschleunigung zu einem bestimmten Zeitpunkt ist die Ableitung der Geschwindigkeit nach der Zeit. Um die beim Beschleunigen oder beim Bremsen zurückgelegte Entfernung zu ermitteln, musst du das Integral über die Geschwindigkeitbilden. Bei einem Rennen legen alle Maschinen die gleiche Strecke zurück, und so ist das Geschwindigkeitsdifferential der entscheidende Faktor bei der Bestimmung des Siegers. Na, was meinst du? Sind Integral- und Differentialrechnung wirklich so nutzlos?«
Morioka machte ein Gesicht, als hätte er nicht viel von dem verstanden, was Ishigami gesagt hatte. »Aber die Rennfahrer müssen doch nicht über Differential und Integral und so was nachdenken«, entgegnete er. »Sie gewinnen, weil sie Erfahrung haben und Instinkt.«
»Da hast du natürlich recht. Aber für das andere brauchen sie ihre Berater und Trainer, die immer wieder Simulationen durchführen, wo und wann man am
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