Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
besten beschleunigt, und Strategien entwickeln. Dazu verwenden sie Integral- und Differentialrechnung. Oder wahrscheinlich nicht sie selbst, sondern die Computer, mit denen sie arbeiten.«
»Dann reicht es doch, dass die Leute, die die Software entwickeln, Mathematik lernen?«
»Mag sein. Aber stell dir vor, du würdest sie entwickeln.«
Morioka lehnte sich weit zurück. »Ich? Ausgeschlossen.«
»Gut, nicht du, aber dann vielleicht ein anderer in dieser Klasse. Dafür gibt es Mathematikunterricht. Was ich euch zeige, ist nicht mehr als der Eingang zur Welt der Mathematik. Denn wer nicht einmal weiß, wo der Eingang ist, kann sie nicht betreten. Natürlich müsst ihr sie nur betreten, wenn ihr es wollt. Mit diesen Arbeiten vergewissere ich mich lediglich, dass ihr wisst, wo sich der Eingang befindet.«
Während er sprach, ließ Ishigami seinen Blick über die Bänke schweifen. In jedem Jahrgang gab es einen Schüler, der fragte, wozu er überhaupt Mathematik lernen müsse. Und jedes Mal sagte er in etwa das Gleiche. Diesmal hatte er dasBeispiel mit den Motorrädern gebracht. Im letzten Jahr hatte er einem angehenden Musiker erklärt, wie wichtig Mathematik für Toningenieure sei. Für Ishigami selbst hingegen war es immer das alte Lied.
Als er nach dem Unterricht ins Lehrerzimmer kam, fand er eine Nachricht auf seinem Schreibtisch. Eine Handynummer und »Anruf von Yukawa« waren in der Schrift eines Kollegen auf den Zettel gekritzelt.
Was wollte Yukawa von ihm? Aus irgendeinem Grund wurde es Ishigami eng in der Brust.
Er nahm sein Handy, ging hinaus auf den Flur und wählte die Nummer. Yukawa nahm beim ersten Klingeln ab.
»Entschuldige, dass ich dich bei der Arbeit störe«, sagte Yukawa.
»Ist es dringend?«
»Ja, vielleicht. Könnten wir uns heute noch treffen?«
»Heute? Ich habe noch einiges hier zu tun. Aber nach fünf ginge es …« Er hatte seine sechs Stunden abgeleistet, und die Schüler waren bereits im Unterricht bei ihren jeweiligen Klassenlehrern. Ishigami hatte keine eigene Klasse. Den Schlüssel zum Dojo konnte er einem anderen Lehrer anvertrauen.
»Gut, dann warte ich um fünf Uhr am Tor auf dich. Ist das in Ordnung?«
»Kein Problem … wo bist du gerade?«
»Nicht weit von deiner Schule. Also bis später.«
»Alles klar.«
Was konnte denn so dringend sein, dass Yukawa ihn eigens abholte?
Bis er die restlichen Arbeiten benotet und sich zum Gehen bereitgemacht hatte, war es fünf Uhr. Ishigami verließ das Lehrerzimmer und ging über den Schulhof zum Tor. Yukawawartete bereits an dem Fußgängerüberweg neben dem Schultor. Sein schwarzer Mantel flatterte im Wind. Als er Ishigami sah, lächelte er und winkte.
»Tut mir leid, dass ich dich aufgescheucht habe«, sagte er.
»Was ist denn so dringend?«, fragte Ishigami ebenfalls mit freundlicher Miene.
»Komm, wir gehen und reden dabei.« Yukawa wollte die Kiyobashi-Straße nehmen.
»Nein, hier entlang ist es näher.« Ishigami zeigte auf eine Seitenstraße. »Die führt direkt zu meiner Wohnung.«
»Aber ich möchte an dem Bento-Laden vorbeigehen«, sagte Yukawa wie nebenbei.
»Warum denn das …?« Ishigami spürte, wie seine Gesichtsmuskeln verkrampften.
»Warum wohl? Um ein Bento zu kaufen. Heute werde ich wahrscheinlich keine Zeit haben, mir etwas Richtiges zu machen, also besorge ich mir lieber vorsorglich ein Abendessen. Die haben doch gutes Bento? Immerhin kaufst du beinahe jeden Tag dort.«
»Ja, klar. Dann lass uns gehen.« Ishigami schlug die Richtung zum
Benten-tei
ein.
Auf dem Weg zur Kiyosu-Brücke donnerten große Lastwagen an ihnen vorbei.
»Also: Neulich habe ich mich mit Kusanagi getroffen, du weißt schon, der Kommissar, der auch bei dir war.«
Ishigamis Anspannung wuchs ebenso wie seine düsteren Vorahnungen.
»Was hat er gesagt?«
»Nichts Großartiges. Immer wenn er bei seiner Arbeit feststeckt, kommt er zu mir, um sich auszuweinen und mir knifflige Fragen zu stellen. Einmal wollte er, dass ich ihm bei einemFall mit einem Poltergeist helfe. Das war vielleicht ein Ding!«
Yukawa begann, die Geschichte von dem Poltergeist zu erzählen. Ein ziemlich interessanter Fall. Aber Ishigami wusste, dass Yukawa ihn nicht deshalb aufgesucht hatte. Er war schon drauf und dran zu fragen, was sein Studienkollege nun eigentlich von ihm wolle, als das
Benten-tei
in Sicht kam. Die Vorstellung, mit Yukawa den Laden zu betreten, verunsicherte ihn. Es ließ sich nicht voraussehen, wie Yasuko reagieren würde. Allein, dass
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