Verdammnis
mehr als zwei Jahre verbracht hatte.
Sie spitzte die Ohren, als Chefarzt Peter Teleborian im Fernsehen interviewt wurde. Er war acht Jahre älter als damals bei der Gerichtsverhandlung, in der man sie für nicht geschäftsfähig erklärt hatte. Er legte seine Stirn in tiefe Falten und kratzte sich seinen dünnen Bart, während er sich bekümmert an den Studiojournalisten wandte und erklärte, er unterliege der Schweigepflicht und könne sich daher nicht zu einzelnen Patienten äußern. Er könne nur sagen, dass Lisbeth Salander ein sehr komplizierter Fall sei, der eine qualifizierte Betreuung verlange. Das Gericht habe damals gegen seine Empfehlung gehandelt und beschlossen, Salander einen rechtlichen Betreuer an die Seite zu stellen, anstatt ihr die Behandlung in einer Anstalt zu gewähren, die sie dringend nötig habe. Ein Skandal, befand Teleborian. Er bedauerte sehr, dass für diese Fehleinschätzung nun drei Menschen mit dem Leben hatten bezahlen müssen. Bei dieser Gelegenheit prangerte er sogleich die Kürzungen im Psychiatriebereich an, die die Regierung in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt hatte.
Lisbeth nahm zur Kenntnis, dass keine einzige Zeitung die häufigste Form dieser Behandlung beschrieb. In der geschlossenen Abteilung der Kinderpsychiatrie, die Dr. Teleborian unterstand, wurden »unruhige und widerspenstige Patienten« in ein Zimmer gesperrt, das man »stimulationsfrei« nannte. Die Einrichtung bestand aus einer Pritsche mit einem Gurt. Die akademische Begründung lautete, dass unruhige Kinder hier keinen »Stimuli« ausgesetzt waren, welche Ausbrüche hervorrufen konnten.
Als sie heranwuchs, entdeckte sie, dass es dafür noch eine andere Bezeichnung gab. Sensory deprivation . Den Genfer Konventionen zufolge war es unmenschlich, Gefangene einer sensory deprivation auszusetzen. Diese Maßnahme war gängiger Bestandteil von Experimenten zur Gehirnwäsche, die verschiedene Diktaturen durchgeführt hatten. Man hatte schriftlich festgehalten, dass die politischen Gefangenen, die in den Moskauer Prozessen der 30er-Jahre diverse Verbrechen gestanden hatten, einer derartigen Behandlung unterzogen worden waren.
Als Lisbeth Peter Teleborians Gesicht im Fernsehen sah, verwandelte sich ihr Herz in einen Eisklumpen. Sie überlegte, ob er wohl immer noch dasselbe Rasierwasser benutzte. Dieser Mann war verantwortlich für all das gewesen, was theoretisch als ihre »Behandlung« definiert worden war. Sie hatte nie begriffen, was man eigentlich von ihr erwartete, außer dass sie behandelt werden musste und ihre Missetaten einsehen sollte. Stattdessen hatte Lisbeth bald etwas anderes eingesehen, dass nämlich ein »unruhiger und widerspenstiger Patient« jemand war, der Teleborians Wissen und Autorität infrage stellte.
Sie fand heraus, dass die psychiatrischen Behandlungsmethoden, die im 16. Jahrhundert gang und gäbe gewesen waren, in St. Stefans noch an der Schwelle zum 21. Jahrhundert praktiziert wurden.
Die Hälfte ihrer Zeit in St. Stefans verbrachte sie gefesselt auf der Pritsche im »stimulationsfreien« Raum. Wohl eine Art Rekord.
Teleborian hatte sie nie mit sexuellen Absichten berührt. Er hatte sie nicht einmal in den unschuldigsten Zusammenhängen berührt. Einmal hatte er ihr mahnend die Hand auf die Schulter gelegt, als sie mal wieder festgeschnallt in der Isolierzelle lag.
Sie fragte sich, ob die Spuren ihrer Zähne auf seinem kleinen Finger wohl immer noch zu sehen waren.
Das Ganze war zu einem Duell geworden, bei dem Teleborian jedoch die weitaus besseren Karten hatte. Ihr Gegenmittel bestand darin, sich total einzuigeln und ihn völlig zu ignorieren, wenn er mit ihr in einem Raum war.
Im Alter von zwölf Jahren wurde sie von zwei Polizistinnen nach St. Stefans begleitet. Das war ein paar Wochen, nachdem All Das Böse geschehen war. Sie konnte sich an jede Einzelheit erinnern. Erst hatte sie noch geglaubt, die Dinge würden jetzt irgendwie in Ordnung kommen. Sie hatte versucht, der Polizei, den Sozialarbeitern, dem Krankenhauspersonal, den Schwestern, Ärzten, Psychologen und sogar einem Pfarrer, der mit ihr zusammen beten wollte, ihre Version der Geschichte zu erklären. Als sie auf dem Rücksitz des Polizeiautos saß und sie Richtung Uppsala am Wenner-Gren-Center vorbeifuhren, wusste sie immer noch nicht, wohin die Reise ging. Niemand hatte sie informiert. Da begann ihr langsam zu dämmern, dass gar nichts in Ordnung kommen würde.
Sie hatte versucht, es Peter Teleborian zu
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