Verdammt feurig
um einen erneuten Anschlag auf den Bierlapp zu planen. Papa kaufte grundsätzlich keine »Böllerei«, da Feuerwerk nur Krach mache und die Luft verpeste, was ihm weitere Pluspunkte bei Leander einbrachte.
Aber der Bierlapp hatte es verdient, einen zerfetzten Briefkasten vorzufinden, dieses Jahr erst recht. Er war nämlich nicht in die Südsee gefahren, wie er es eigentlich vorgehabt hatte. Nein, laut Papas Bestatterfreunden hatte er gesagt, dass man sich ein solches Großereignis wie die Grippewelle nicht entgehen lassen könne als Bestatter – vor allem nicht an Weihnachten und bei Eiseskälte. »Wann ist es denn hier mal so kalt?«, muss er begeistert ausgerufen und sich seinen dicken Bauch gestreichelt haben. Das war für Papa der endgültige Beweis dafür, dass der Bierlapp ein geldgieriger, rücksichtsloser Halunke und ein Schandfleck für das ehrenwerte Berufsfeld der Bestatter war. Papa hatte seit Tagen nichts zu tun und das machte ihm arg zu schaffen. Er würde niemals zugeben, dass er seine Arbeit vermisste, wenn kein neues Material reinkam, denn er wollte ja nicht, dass die Leute um ihn herum umkippten wie die Fliegen. Aber er vermisste es, im Keller zu werkeln. Ich erkannte es daran, wie unkonzentriert er neuerdings sein Ei köpfte. Heute Morgen war es sogar auf den Boden gefallen.
Deshalb war es umso besser, dass wir heute rüber zu den Lombardis gingen. Es würde ihn ablenken und ich hatte einen ganzen Abend mit Seppo und ohne Leander. Das war fast zu schön, um wahr zu sein.
»Okay, dann bis nächstes Jahr!«, sagte ich und hob grüßend die Hand. Leander tat so, als gäbe es mich nicht. »Du mich auch«, murmelte ich und ging in den Flur, wo meine Eltern bereits auf mich warteten. Mama hatte sich in ein rosaseidenes Kostüm gequetscht und ihre Locken mit ein paar glitzernden Spängchen verziert. Sie sah unmöglich aus. Papa hingegen sah wie immer aus – nämlich so, als müsste er einen Kunden zu Grabe tragen: Anzug in Schwarz, Krawatte in Grau. Nicht einmal das Hemd war weiß. Insgeheim hoffte er wahrscheinlich darauf, dass irgendwann im Laufe der Silvesternacht sein Handy schrillte und er seinen Slogan wahrmachen konnte: »Wir helfen Ihnen immer.«
Bei den Lombardis herrschte bereits ausgelassene Feierstimmung. Die Gaststube war gestopft voll und aus den Lautsprechern in der Ecke dröhnte Gianna Nannini. Gianna Nannini war die Lieblingssängerin von Seppos Papa und so kannte ich ihre Lieder in- und auswendig, denn sie liefen bei jedem Silvesterfest. Sofort machte sich ein angenehmes Kribbeln in meinem Bauch breit. Noch während ich meine Jacke auszog, begann ich, in dem Menschengewirr nach Seppo Ausschau zu halten – ah, da drüben stand er ja, wie letztes Jahr, neben der Tanzfläche an der Bar. Er kümmerte sich um die Kaffee- und Espressomaschine, doch Kaffee wollte im Moment niemand. Kaffee war erst nach dem Feuerwerk gefragt. Er würde also Zeit für mich haben. Er musste Zeit haben!
Ich drängelte mich durch die lachenden und schwatzenden Menschen und spürte, wie mir flau im Magen wurde. Auch mein Gesicht glühte. Was war bloß los mit mir? Eben noch hatte ich riesigen Hunger gehabt und mich auf die dick belegten Silvesterpizzen und das Tiramisu gefreut. Und jetzt machte mein Magen bei jedem Schritt einen Salto. Seppo stand mit dem Rücken zu mir und polierte die Stahlhaube der Kaffeemaschine.
»Hi!«, wollte ich ihm zurufen, doch anstatt auch nur einen Ton zu sagen, rannte ich an ihm vorbei und durch den schmalen, dunklen Flur in die Damentoilette. Ich ließ die Tür zufallen und lehnte mich an die kühle Wand. Zum Teufel, es musste doch möglich sein, neben Seppo zu atmen und Hunger zu haben und ihm wie jedes Jahr ganz normal Hallo zu sagen. Vor allem war ich doch eigentlich noch sauer auf ihn! Es gab keinen Grund, vor ihm davonzurennen. Er hätte vor mir davonrennen müssen.
»Ach, sieh mal an, hallo, hallo! Das Nachbarskind.«
Ich drehte mich erschrocken zur Seite. Oh nein. Silvana. Warum Silvana? Und warum ausgerechnet jetzt? Silvana war irgendeine entfernte Verwandte von Seppo, so eine Art Cousine – keine Ahnung. Sie war schon fünfzehn, mindestens zwei Köpfe größer als ich, hatte einen richtigen Busen, lange schwarze Haare bis zum Po und dicke Lippen, die sie immer ein bisschen verzog, damit sie noch dicker wirkten. Das sah bescheuert aus, aber anscheinend fand sie selbst sich toll damit. Sie stemmte die Arme in die Seite, knickte die Hüfte ein und begutachtete mich mit
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