Verdammt feurig
hatte. Also musste es jemand anderes aufgerufen haben. Etwa Vitus? Konnte ein Spürer mit Computern umgehen? Bestimmt nicht, wenn sie die Menschen nie beobachteten oder ihnen zuhörten.
Mit einem wütenden Mausklick schloss ich das Fenster des Videos und hatte wieder die unzähligen Versionen von Stille Nacht, heilige Nacht und Il n’y a pas d’amour heureux auf dem Bildschirm. Leander … Leander hatte mit dem Laptop umgehen können. Und er konnte meine Favoriten in YouTube öffnen. Er musste hier gewesen und den Film aufgerufen haben! Er hatte sich schließlich nie daran gewöhnen können, dass ich Parkour machte, und ich hatte ihn beleidigt mit seinen Meerschweinchen; ja, er war zutiefst beleidigt gewesen, als er weggeflogen war – und so eine linke Aktion wie die hier passte zu ihm. Ja, das passte.
Leander hatte mich ans Messer geliefert.
»Ich hasse dich«, flüsterte ich, und Tränen der Wut liefen über mein Gesicht. »Du hast es wieder versucht und diesmal hast du gewonnen. Ich hasse dich aus tiefstem Herzen.«
Oh ja, das tat ich. Er hatte mir alles kaputt gemacht. Wie konnte er auch verstehen, warum mir der Sport so viel bedeutete? Er hatte keine Gefühle. Und wenn er menschelte, trieb seine Truppe es ihm aus.
Keiner verstand, was ich dabei fühlte – außer Seppo und Serdan und Billy, aber die würden es meinen Eltern nicht erklären können, weil Mama dann sofort zu Seppos Mama laufen würde, und die würde noch mehr durchdrehen als meine Mutter. Niemals würde ich Seppo für mich gewinnen können, wenn ich ihm seine Mutter auf den Hals hetzte.
Mama trat, ohne zu klopfen, ins Zimmer und stellte ein Tablett mit einer Tasse Tee, Brötchen und Fleischklößchen neben mein Bett. Das war ja wie im Gefängnis. Und Fleischklöße wollte ich schon gar nicht. Sie erinnerten mich an Leander.
»Luzie. Ich möchte dich nicht einsperren, aber du bist meine Tochter, ich habe Verantwortung für dich. Ich darf das nicht durchgehen lassen, es ist lebensgefährlich. Kannst du mir denn vielleicht versprechen, ganz ohne Lügen, dass du es nicht wieder tun wirst? Sieh mir in die Augen …«
Ich sah sie an, doch ich konnte ihren verheulten Blick nicht halten. Ich mochte Mama so nicht. Sie war mir auf einmal fremd. Ich wollte die dusselige, trampelige Mama von vorher, aber nicht die hier.
»Nein, das kann ich nicht. Oh Mama, verstehst du das nicht? Ich will das tun!«
»Das interessiert mich nicht. Gut, dann muss ich eben auf dich aufpassen. Guten Appetit«, sagte sie schnippisch und ging nach draußen. Ich ließ Mogwai die Fleischklößchen fressen, trank den Tee leer und konnte nicht vergessen, was Mama vorhin über Papa gesagt hatte. Papa – und Tränen? Totenbleich? Meinetwegen? Und warum sprach er dann nicht mit mir? Warum schimpfte er nicht? Wieso blieb er da unten in seinem Keller und stellte mich nicht zur Rede?
Ich beschloss, zu ihm runterzugehen, vielleicht konnte ich ihm erklären, warum Parkour mir so wichtig war, und mich irgendwie mit ihm versöhnen. Doch als ich vor der eisernen Tür stand, konnte ich mich nicht mehr bewegen. Heute Mittag waren Särge gekommen. Gleich zwei auf einmal. Und das bedeutete meistens, dass ein Unfall geschehen war. Keine Omis und Opis, die friedlich im Schlaf gestorben waren. Sondern etwas richtig Schlimmes. Etwas Gemeines.
Ich konnte nicht zu ihm gehen. Ich hatte Angst. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst vor unserem eigenen Keller.
Und das verstand ich noch weniger als alles andere, was an diesem schwarzen Tag passiert war.
Entwicklungsschub
»Waaaas?«, riefen Billy und Serdan wie aus einem Munde. Nur Seppo sagte nichts. Er schwieg und schaute mich so ausführlich und intensiv an, dass mir heiß wurde in meiner dicken Winterjacke.
»Du machst kein Parkour mehr?«, blökte Billy und sah mich entgeistert an.
»Pscht. Nicht so laut!«, stauchte ich ihn zusammen. »Muss ja nicht jeder mitbekommen.«
Ich winkte die Jungs in die Ecke hinter dem Turnhalleneingang. Wieder versuchte ich das komische enge Gefühl in meiner Kehle hinunterzuschlucken, doch es löste sich nicht. Ich hatte den Jungs eben gesagt, dass ich nicht mehr zum Training kommen würde. Und vor der Schule hatte ich fast eine Stunde lang mit Mama über tausend blöde Dinge gestritten. Sie wollte nun ganz genau wissen, wer dieses Video überhaupt gefilmt und ins Netz gestellt hatte. Na, David Belle war erwachsen, den musste ich nicht schützen. Er hatte den Parkour höchstpersönlich erfunden.
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