Verdammt wenig Leben
nicht wieder einschlafen konnte. Wegen Alice hatte er Minervas Drehbuch gestern Abend vollkommen vergessen und nun hatte er ein schlechtes Gewissen. Was war, wenn ihn diese neue Geschichte ebenfalls vor einer Gefahr hatte warnen wollen, so wie die erste? Was war, wenn jemand hatte sterben müssen, weil er sie nicht rechtzeitig gelesen hatte? Minerva trieb keine Spielchen mit ihm; wenn sie ihm diese seltsamen Drehbücher schickte, dann aus einem guten Grund, da war er sich sicher.
Er zog den Morgenmantel über und zündete über einen Sprachbefehl Feuer im Kamin an. Wie immer um diese Zeit lud Tinkerbell ihren Akku auf, also ging er in die Küche und machte sich selbst eine Tasse Instant-Kakao.
Mit der dampfenden Tasse in der Hand schaltete er das Telefon ein und rief die letzte Datei von Minerva auf. Er las sie von Anfang bis Ende. Die Geschichte kam ihm vollkommen irre vor, und am meisten beunruhigte ihn, dass die Hauptdarstellerin am Ende ihre Schwester umbrachte. Als er an die Ähnlichkeit mit Edgar Freys Drehbuch dachte, bekam er eine Gänsehaut.
Ansonsten hatten die beiden Geschichten nichts miteinander zu tun. Diesmal ging es um eine psychisch Kranke namens Rebecca Allen und ihre Schwester Susanna, die sich um sie kümmerte. Im Drehbuch war die junge Rebecca dabei, in aller Ruhe einen Kuchen zu backen, als ihre Schwester hereinkam, um ihr ihre Medikamente zu geben. Rebecca nahm die Tabletten ohne Widerrede. Und hier kam das karamellfarbene Fläschchen ins Spiel, das dem aus Edgar Freys Labor so ähnlich sah.
Jedenfalls nahm die Frau die Tablette, knetete eine Zeitlang ihren Teig weiter und trällerte dabei einen Schlager. Aber auf dem nächsten Panel verwandelte sich Rebeccas Gesicht, ihre Pupillen waren geweitet und sie hatte ihre Lippen zu einem irren Grinsen verzogen. Ihre Schwester erzählte ihr etwas vom anderen Raum aus, aber sie sagte nichts dazu, sondern ging mit entschlossenen Schritten ins Schlafzimmer, kletterte auf einen Stuhl und holte aus einem der oberen Schrankfächer ein sorgfältig zusammengelegtes rotblaues Kostüm. Als sie es auseinanderfaltete, fiel ein kleiner Dolch auf den Boden, zusammen mit einem flexiblen Minidisplay, auf das jemand eine Nachricht gekritzelt hatte.
Dann ging alles ganz schnell. Rebecca lief im Superheldinnenkostüm ins Wohnzimmer und bevor ihre Schwester irgendetwas tun konnte, warf sie den Dolch nach ihr. Er bohrte sich ihr direkt ins Herz. Susanna verblutete am Boden und Rebecca starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Ende der Episode.
Mit der halb leeren Tasse in der Hand verließ Jason die Küche, um sich an den Rechner im Arbeitszimmer zu setzen. Er musste mehr über Rebecca und Susanna Allen herausfinden, also lud er sich die letzten Sendungen der beiden Schwestern herunter. Zu Susanna gab es zahlreiche Foren und Fanklubs. Anders als er zunächst angenommen hatte, war nicht die verrückte Schwester die Protagonistin, sondern die gesunde. Nach den Forenbeiträgen zu urteilen hatte die Selbstlosigkeit, mit der Susanna sich um Rebecca kümmerte, ihr die Sympathie von Millionen von Zuschauern auf der ganzen Welt eingebracht. Durch ihre ständige Aufopferung war sie zu einem Vorbild geworden, das sogar in manchen Schulen durchgenommen wurde, und zwischen den Dreharbeiten hielt sie überall Vorträge, erzählte von ihrer Situation und erklärte, wie schön es war, helfen zu können.
Erst nachdem Jason zwei weitere Folgen gesehen hatte, begriff er, was mit Rebecca los war. Sie litt an einer gespaltenen Persönlichkeit. In klaren Phasen war sie eine eher schüchterne junge Frau, die leidenschaftlich gern Torten und Pasteten backte. Aber hin und wieder verwandelte sie sich ohne jede Vorwarnung in »Superdoll«, eine Heldin, die unter anderem glaubte, dass sie fliegen, durch Wände gehen und die Menschheit vor jeder Gefahr retten könnte.
Das Schrecklichste an der Sendung war, dass Rebeccas Krankheit absolut echt wirkte. Eine Schauspielerin, so erfahren sie auch sein mochte, hätte diese ständigen Persönlichkeitsveränderungen niemals so überzeugend spielen können. Außerdem hätte keine Schauspielerin nur um einer Rolle willen mehrmals am Tag ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Denn Rebecca stieß sich ständig irgendwo und fiel hin, und dass sie noch lebte, hatte sie einzig und allein ihrer Schwester zu verdanken, die unermüdlich auf sie aufpasste.
Jason schaltete den Rechner aus. Für eine Weile sah er durch das große Fenster im Arbeitszimmer in das erste
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