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Verdammt wenig Leben

Verdammt wenig Leben

Titel: Verdammt wenig Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Alonso , Javier Pelegrin
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Morgenlicht. Er versuchte zu begreifen, was all das bedeutete. Einiges lag auf der Hand: Da Rebecca wirklich krank war, gingen die Drehbücher nicht an sie, sondern an ihre Schwester. Die wahre Hauptdarstellerin der Sendung war Susanna. Warum sollte jemand wollen, dass Rebecca sie umbrachte? Die Serie hatte bei dem Thema eigentlich unvorstellbare Einschaltquoten erreicht und war außerdem bei der Kritik und diversen Institutionen auf breite Anerkennung gestoßen, weil sie angeblich die gesellschaftliche Sensibilisierung förderte. Es gab keinen Grund, einen Dolch so zu deponieren, dass Rebecca ihn finden musste, und dadurch eine Katastrophe heraufzubeschwören. Wer konnte sich so etwas Grässliches ausgedacht haben?
    Plötzlich blieb Jason fast das Herz stehen. Die Tabletten. Da lag der Schlüssel, bei diesen Kapseln, die er aus dem Labor mitgenommen hatte. Jetzt begriff er, warum Minerva ihn mit der Nase darauf gestoßen hatte. Er hatte doch den holografischen Beipackzettel gesehen, das Mittel hemmte die Wirkung eines Botenstoffs, der bei multiplen Persönlichkeiten die gefürchtete Kettenreaktion auslöste. Man brauchte nur zwei und zwei zusammenzuzählen. Rebeccas Krankheit war nicht natürlich, sondern wurde künstlich herbeigeführt. Sie bekam ein Medikament, das genau die Störungen, die es eigentlich unterdrücken sollte, überhaupt erst hervorrief. Im Drehbuch war es klar zu sehen: Direkt nach der Einnahme der Tabletten verwandelte Rebecca sich schlagartig in »Superdoll«.
    Ihm trat kalter Schweiß auf die Stirn. Er hätte es niemals für möglich gehalten, dass jemand für eine gute Einschaltquote so weit gehen würde. Er hatte nicht einmal gewusst (wie wahrscheinlich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung), dass es überhaupt möglich war, mithilfe von Tabletten eine Persönlichkeitsstörung auszulösen.
    Oder interpretierte er die Dinge vielleicht falsch? War das Fläschchen im Storyboard genau das gleiche, das er an sich genommen hatte, und enthielt doch das Mittel gegen die Krankheit und nicht das, was sie hervorrief? Das hätte er zumindest gern geglaubt.
    Aber sein Instinkt sagte ihm, dass seine erste Vermutung die richtige war. Rebecca wurde krank von den Tabletten, die ihre Schwester ihr verabreichte. Und er musste diese Medizin gegen die Kapseln aus dem Labor austauschen, die genauso aussahen. So würde er Susannas Tod verhindern können.
    Er lehnte sich mit der Stirn an die Wand und zwang sich, die Augen zu schließen.
    »Und wenn ich mich irre?«, fragte er sich. »Was wäre, wenn die Tabletten in meinem Fläschchen genau das bewirken, was ich verhindern will?«
    Aber das konnte nicht sein. Und zwar ganz einfach, weil er Minerva vertraute. Sie konnte niemals wollen, dass diese beiden armen Frauen sich gegenseitig zerstörten. Das war nicht Minervas Stil. Er hatte sie noch nie persönlich getroffen, las aber schon seit vielen Jahren täglich ihre Texte und machte sie zu seinem Leben. Was sie schrieb, war voller Sensibilität und Einfühlungsvermögen gegenüber ihren Figuren. Und in den letzten Monaten …
    Er verspürte ein leichtes Prickeln im Mund. In den letzten Monaten war da noch etwas anderes gewesen. Hunderte von winzigen Zeichen, die außer ihm niemandem aufgefallen waren. Zeichen, die ihm begreiflich gemacht hatten, dass Minerva ihn so gut kannte, dass sie direkt aus seinem Bewusstsein heraus zu schreiben schien. Nach und nach hatte er sich daran gewöhnt, die Liebe anzunehmen, die in Minervas Worten mitschwang, so, wie ein Sohn die Liebe seiner Mutter annimmt. Dabei vermied er es aber, an sie als eine reale Person zu denken, als eine Frau aus Fleisch und Blut. Schließlich gab es Grenzen, die er nicht übertreten durfte. Aber trotz allem – fast immer, wenn er zum ersten Mal einen der wunderschönen Texte las, die Minerva für ihn schrieb, musste er an diesen einen Moment denken, als er ihre wahre Gestalt gesehen hatte: an ihre hellen Augen, ihr blasses, verletzliches Gesicht, ihre atemberaubenden roten Haare …
    Mit einem plötzlichen Schauer sah er dieses Gesicht erneut vor sich. Minerva war eine Frau; sie war genauso verwundbar wie jedes andere menschliche Wesen. Und jetzt verstieß sie plötzlich gegen die Regeln, indem sie in Rätseln zu ihm sprach … Warum nur?
    Sein Gehirn lieferte ihm die Antwort so prompt, dass er erschrak: weil sie in Gefahr war.
    Obwohl es eigentlich noch zu früh am Morgen war, griff er nach seinem Telefon und wählte den Code seines Agenten.
    Pauls

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