Verdammt wenig Leben
Angst, aus Jasons Herausforderung.
»Pass gut auf dich auf, Jason«, sagte der Agent schließlich und wandte sich der Tür zu. »Mach keinen Unsinn. Und red auch keinen Unsinn. Und denk auch keinen … Das ist das Wichtigste, dass du nicht mal welchen denkst. Vergiss nicht, was aus deinen Eltern geworden ist. Und das nur, weil sie sich über gewisse Dinge zu sehr den Kopf zerbrochen haben; weil sie nicht verstehen wollten, wie simpel alles ist. Übrigens, bestell ihnen Grüße, wenn du sie das nächste Mal besuchst.«
»Mach ich«, versprach Jason. »Manchmal vermisse ich sie, auch wenn ich gar nicht recht weiß, warum.«
»Das kann ich verstehen. Sie sind nie da gewesen, wenn du sie gebraucht hast.«
»Stimmt. Dafür warst immer du da. Ich mag dich, Paul, auch wenn du es mir nicht glaubst. Bitte vertrau mir.«
Paul winkte müde ab.
»Schon gut«, sagte er. »Pass auf dich auf, Jason. Und wenn du sie nächstes Mal besuchst, gib mir rechtzeitig Bescheid. Deine Eltern, meine ich. Mir gefällt der Ort, an dem sie wohnen, und ich bin schon viel zu lange nicht mehr am Meer gewesen.«
10
Als Paul fort war, ging Jason langsam in sein Schlafzimmer zurück und schickte Tinkerbell mit einer Handbewegung fort, bevor er die Tür hinter sich schloss.
»In einer halben Stunde gibt es Essen«, rief seine Hausroboterin durch die Tür. »Ich sag dir Bescheid!«
»Nein, lass mal. Ich muss das neue Drehbuch lernen und dann will ich schlafen.«
Während er sprach, hatte er seinen Rechner eingeschaltet. Unter den neu heruntergeladenen Nachrichten war tatsächlich das Drehbuch für den Abend. Anscheinend wussten seine neuen Drehbuchautoren nicht, dass Minerva ihm die Skripte immer direkt aufs Telefon schickte, damit er sie sich überall ansehen konnte.
Rasch klickte er sich durch die holografischen Panels und hielt sich nur bei den Dialogen auf. Es waren dieselben abgedroschenen Phrasen wie immer, die übliche Mischung aus Seufzern, bewundernden Sätzen und Äußerungen von Selbstzufriedenheit, die die Bettszenen mit Alice zu begleiten pflegten. Er vermisste die feinfühligen Bilder, die Minerva immer einflocht, aber zugegeben, außer diesem winzigen Detail unterschied sich das neue Drehbuch nicht groß von den früheren.
»Ich sehe es mir später noch genau an«, sagte er sich und stellte die Projektion ab.«Jetzt habe ich etwas Dringenderes zu tun.«
Nachdem er sich argwöhnisch in alle Richtungen umgesehen hatte, als müsste er fürchten, von jemandem beobachtet zu werden, holte er das Handy aus dem Rucksack und aktivierte es per Sprachbefehl. Erleichtert stellte er fest, dass es keine neue Nachricht von Minerva gab. Besser so, dachte er. Er musste alle Dateien löschen, die er von ihr bekommen hatte. Er brauchte sie nicht mehr, und nach der Sache mit Frey wäre es unklug gewesen, sie aufzuheben.
Danach war er zwar ruhiger, aber nicht ruhig genug, um einschlafen zu können. Trotzdem wollte er es versuchen. Er schlüpfte in den Pyjama, legte sich ins Bett und setzte alles daran, sich zu entspannen und sämtliche Gedanken, die mit den Ereignissen der letzten Tage zu tun hatten, beiseitezuschieben.
Doch das Ergebnis fiel anders aus als beabsichtigt. Als er seine bewussten Gedanken aus dem Kopf verbannte, entstand Raum für eine sonderbare Abfolge von unzusammenhängenden Bildern, Visionen ohne jede Bedeutung, die wie bengalische Feuer vor seinem inneren Auge gespenstisch aufflackerten und bald wieder erloschen.
Manche dieser Visionen drehten sich um Alice. Sie lief mitten in der Nacht nach der Sperrstunde durch irgendeine abgelegene Straße und er beobachtete sie von Weitem, als wäre er ein Fremder. Ein absurdes Bild, das keiner realen Erinnerung entsprach und in krassem Gegensatz zu der vertrauten Nähe ihrer letzten Begegnungen stand. In anderen Visionen ging es um Clarissa und die machten ihm noch mehr zu schaffen. Er sah seine Exfreundin, wie sie mit verweinten Augen und zerlaufener Wimperntusche vor dem Spiegel saß und in Selbstmitleid zerfloss. Er fühlte sich abgestoßen. Er war nie in Clarissa verliebt gewesen, aber es kam ihm unfair vor, sie sich in einer so unwürdigen Haltung vorzustellen, und das löste absurde Schuldgefühle in ihm aus.
Zum Schluss kam Minerva, die unwirklichste, beunruhigendste von den dreien. Die Frau, die mit ihm spielte und sein Leben in Gefahr brachte. Vor ihrem Verschwinden hatte er möglichst wenig an sie als eine reale Frau gedacht, eine Frau aus Fleisch und Blut, die ein Mann in
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