Verdammte Deutsche!: Spionageroman (German Edition)
um dort dem Kaplan und den Aufsehern die Haare zu schneiden. Darüber hinaus unternahm er so gut wie nichts.
Heute aber soll Drummond Melville bei der Beobachtung des Buchladens im Cecil Court ablösen. Niemand sonst ist verfügbar, und Melville ist übel gelaunt, weil er selbst auf Posten ziehen mußte. Außerdem fällt ein eisiger Regen.
» Da sind Sie ja endlich«, grunzt der Detektiv, » übernehmen Sie, ich muß weg.«
» Ist die Tochter im Haus, Mr. Melville?«
» Ja, wo sonst? Passen Sie auf, daß sie Ihnen nicht durch die Lappen geht!«
Melville stapft davon. Drummond geht rasch auf die Seite der Gasse, auf der der Buchladen ist. So provozierend wie Melville will er sich hier nicht aufbauen. Hier aber kann ihn Vivian aus den Fenstern nicht sehen, solange sie sich nicht herauslehnt. Sie dürfte ihn allerdings kaum erkennen. Er hat einen falschen Vollbart angeklebt und eine Wollmütze auf, wie sie Seeleute und Hafenarbeiter tragen. Die verdeckt seine abstehenden Ohren. Dazu passend trägt er ein Peajacket, eine blaue Arbeitshose und Seestiefel.
Ab und zu holt er seine Taschenuhr heraus und wirft einen Blick darauf, so, als wartete er auf jemanden. Eine ganze Stunde vergeht, ohne daß die junge Frau sich blicken läßt. Schließlich geht er vor zum Salisbury, sich aufwärmen und die feuchte Mütze trocknen. Warum soll er überhaupt hier sein, einen Tag nachdem Melville den Buchhändler verhaften hat lassen? Er rechnet wohl damit, daß die Tochter etwas unternimmt. Aber was könnte sie schon tun?
Während er an seinem Whisky nippt, überlegt er, ob Melville ihm mißtraut. Hat der Detektiv gemerkt, daß er früher öfter die Beobachtung des Buchladens unterbrochen hat, um Vivian zu folgen? Wartet er irgendwo hinter einer Ecke, um zu sehen, ob er das wieder tut? Weiß er gar von ihm und Emmeline?
Jedenfalls glaubt Melville nach wie vor an den großen deutschen Agentenring. Vor ein paar Tagen hat er bei der Frühbesprechung noch einmal seinen Standpunkt klargemacht: Das Secret Service Bureau sei zu schwach besetzt und unterfinanziert. Deshalb müsse es um jeden Preis Erfolge erzielen, denn es komme vor allem darauf an, seine Leistungsfähigkeit zu beweisen, um mehr Mittel zu bekommen.
Dazu sei es nötig, Agenten zu entlarven. Ihm persönlich sei es egal, ob die Beweise für deren Spionagetätigkeit vor Gericht standhielten. Hauptsache, der Öffentlichkeit werde ständig vor Augen geführt, daß eine wirkliche Gefahr bestehe und mehr Mittel verfügbar gemacht werden müßten. Dazu brauche es Schlagzeilen, und für die müsse man eben sorgen. Und deswegen müsse man auch bereit sein, ein wenig Integrität zu opfern. » Wir kommen doch nicht weiter, wenn wir uns stur an das Gesetz halten!«, hatte er getönt. » Ist das Bureau erst großzügig ausgebaut, wird es schnell gelingen, den deutschen Ring zu zerschlagen.« Kell war darauf nicht eingegangen und hatte nur erwidert, er werde auf dem einmal eingeschlagenen Weg bleiben.
Drummond stellt das leere Glas ab und wirft einen Blick auf die Uhr über dem Tresen. Höchste Zeit, wieder zum Buchladen zu gehen.
London, Cecil Court, 16. Januar 1913, Donnerstag
Vivian schaut vorsichtig aus dem Fenster im ersten Stock. Stehen immer noch Detektive vor dem Haus? Tatsächlich. Da steht der Alte mit dem Stock, genau gegenüber im Eingang des Kameraladens und macht nicht den geringsten Versuch, sich zu verstecken. Dieser Mistkerl! Das ist der Schurke, der all das Unheil angerichtet hat, der seinerzeit den Laden verwüstet und gestern ihren Vater verhaftet hat. Und wahrscheinlich hat er auch dafür gesorgt, daß sie aus dem College geflogen ist.
Gerade will sie sich vom Fenster abwenden, da sieht sie, wie ein Mann, ein Seemann anscheinend, auf den Alten zugeht und mit ihm spricht. Gleich danach geht der Alte weg, wobei er zornig seinen Stock auf das Pflaster stößt, so daß sie es bis hier herauf hören kann. Er geht vor zur St. Martin’s Lane.
Ein Gedanke schießt ihr durch den Kopf. Sie hastet nach unten, noch bevor sie ihn zu Ende gedacht hat, und schnappt sich Mantel, Schal und Hut. Dann fällt ihr ein, daß es regnet, und sie holt schnell den Schirm aus Vaters Büro. Sie öffnet die Hintertür und späht hinaus. Niemand zu sehen. Ein quietschendes Türchen im Bretterzaun führt in den Nachbarhof, und von dort gelangt sie auf die Rückseite des Duke-of-York-Theaters. Hier gibt es einen Torweg, der auf die Straße führt. Noch bevor sie aus diesem Torweg
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