Verdeckt
wissen, wie man sich auf dem Gipfel des Mount McKinley fühlte. Also bestieg er den Berg. (Und behauptete anschließend, es sei die viele Mühe, das Frieren und das Schwitzen nicht wert gewesen.) Er versuchte sich im Triathlon und im Fallschirmspringen und paddelte auf dem Amazonas. Um seine eigene Haut sorgte er sich nie. Ihn interessierte nur die Antwort auf die Fragen, die ihn beschäftigten, und die Befriedigung seines Verlangens nach neuen Erfahrungen. Einmal hatte er beim Stierlauf in Pamplona mit durch die Straßen rennen wollen. Aber Lacey hatte ihm weisgemacht, er hätte den Termin verwechselt. Deshalb verpasste er das Ereignis. Zwei Wochen lang hatte er damals nicht mit ihr geredet.
Das war es ihr wert. Dafür war er unverletzt wieder nach Hause gekommen.
Eine Zeitlang waren sie ein Paar gewesen, aber das hatte nicht funktioniert. Sie war eine halbwegs konventionelle Frau und er alles andere als ein konventioneller Mann. Er hatte zu viel Feuer und sie brauchte Stabilität. Michael wich ihr nicht von der Seite und riss das Kommando an sich, während sie nach Unabhängigkeit strebte. Ständig hatte er sie vor den Untiefen des Lebens schützen wollen und verstand nicht, dass sie sich auch der hässlichen Seite des Schicksals stellen musste, um sich zu beweisen, dass sie auf eigenen Beinen stehen konnte. Als die Trennung sich abzeichnete, gelobte er, er würde sich ändern. Aber dann wäre er nicht mehrder leidenschaftliche Michael gewesen, den sie liebte. Als sie die Beziehung beendet hatte, war er in monatelanges, düsteres Grübeln versunken. Er war nach Alaska verschwunden und hatte auf einem Krabbenkutter angeheuert, weit weg von allen Frauen. Aber das Alaska-Abenteuer hatte er beinahe mit dem Leben bezahlt: Er war von Deck gestürzt und zwanzig Sekunden lang in der eisigen Beringsee untergetaucht.
Nach und nach hatte Michael sich mit seiner Rolle als bester Freund abgefunden. Inzwischen gebärdete er sich meist wie ein älterer Bruder mit überentwickeltem Beschützerinstinkt. Lacey liebte ihn von ganzem Herzen und betrachtete ihn als Teil der Familie. Und sie zankten sich wie Geschwister.
Dass Jack Harper bei Michael sämtliche Warnlichter aufleuchten ließ, war Lacey klar. Einerseits war Jack für ihn am Telefon nicht zu sprechen, andererseits tauchte sein Name in allen möglichen Zusammenhängen mit dem Fall immer wieder auf. Das stachelte die unstillbare Neugier des Enthüllungsjournalisten in Michael an. Wenn irgendwo irgendetwas zum Himmel stank, bohrte, grub und forschte er so lang, bis er die Antworten hatte, die er suchte. Er hatte pädophile Priester an den Pranger gestellt und Kinderstalker, die ihr Unwesen im Internet trieben. Und er hatte Schmiergeldzahlungen in Verbindung mit der Gefängnisverpflegung in Oregon aufgedeckt.
Michael öffnete die Schranktür neben Laceys Spülbecken und wühlte sich durch ihre Arzneimittel. »Hast du Ibuprofen? Mir platzt gleich der Kopf.«
»Ganz hinten.«
Ihr entging nicht, dass er unauffällig die Etiketten der anderen Tablettenröhrchen las. Glaubte er im Ernst, sie würde das nicht merken?
»Irgendwas Stärkeres gegen Schmerzen?«
»Nein«, fauchte sie. »Du weißt, dass ich nichts habe.« Sie schnaubte.
Er macht sich Gedanken. Er fragt nur, weil er sich sorgt.
So plötzlich, dass ihr Gehirn ins Schleudern kam, wechselte Michael das Thema.
»Ich habe heute Suzannes vorläufigen Obduktionsbericht gelesen.« Wie schaffte er das? Sie selbst würde den Bericht erst morgen zu Gesicht bekommen. Der Mann hatte überall seine Quellen. Ärgerlich, aber erwartungsvoll sah sie ihn an.
»Ihre Identität ist noch nicht endgültig bestätigt«, erklärte Michael.
Lacey schüttelte den Kopf. »Schon möglich, dass es noch nicht offiziell ist. Aber ich weiß, dass es sich um Suzanne handelt. Ich habe den odontologischen Bericht erstellt. Die Übereinstimmungen mit ihren alten Röntgenbildern waren hundertprozentig. Sie ist es. Vielleicht werden noch ein paar DNA-Tests durchgeführt. Aber an ihrem ungewöhnlichen Zahnersatz würde sogar ihre Mutter sie wiedererkennen.«
»Irgendetwas gefällt mir daran nicht.« Michael ging wieder auf und ab, tigerte auf dem Holzdielenboden hin und her und ließ die Finger über jeden Gegenstand in Laceys Küche wandern. »Du hast mir nicht gesagt, dass ihre Oberschenkelknochen gebrochen waren«, sagte er.
»Es war dasselbe Tatmuster wie bei allen Opfern, okay? Alle wurden mit gebrochenen Oberschenkeln gefunden. Warum sollte
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