Verdeckt
nicht klar gewesen, dass Menschen sich viel verbissener wehrten als Tiere. Keine Spezies hatte einen ausgeprägteren Lebenswillen als der Mensch. Davon hatte er sich einige Male überzeugen können und dann nie mehr den Fehler gemacht, die ausgewählte Person zu unterschätzen. Er blieb stets auf der Hut, hatte immer alles im Griff.
Nicht wie Ted Bundy. Bundy hatte am Ende die Kontrolle verloren und war zum Opfer seiner eigenen Schwäche geworden. Der Mann war zu dreist gewesen, hatte geglaubt, man könnte ihn nicht erwischen, und wenn, dann gäbe es kein Gefängnis, das sicher genug für ihn wäre. Zweimal war ihm die Flucht gelungen, und vorseiner Hinrichtung in Florida hatte er einen dritten Fluchtversuch geplant. Bundy war topfit und mit gebräunter Haut gestorben. Er hatte Selbstbräunungslotion benutzt und regelmäßig trainiert. Vermutlich hatte er fliehen und sich unter die sonnenverwöhnten Bürger Floridas mischen wollen. Es war ihm nicht gelungen.
Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Dabei dachte er über sein eigenes Ende nach. Zwar konnte er sich das Finale nicht bis ins letzte Detail vorstellen, doch die Menschen sollten erkennen, dass er es minutiös vorbereitet hatte. Er gierte danach, angehimmelt und bewundert zu werden. Das musste doch möglich sein. Aber um sich im Rampenlicht zu sonnen, musste er die Öffentlichkeit suchen. Nur – wie sollte er das machen, ohne dabei verhaftet zu werden? Versonnen kaute er an seiner Lippe und starrte hinaus in den Schnee. Er konnte ein Geständnis ablegen und dann Selbstmord begehen. Damit würde er der Welt zeigen, dass er ein Genie war und gleichzeitig der Gefängnishölle entgehen. Er kannte ein halbes Dutzend Möglichkeiten, sich ohne Hilfsmittel umzubringen.
Das Gefängnis machte ihm Angst. Tod und Selbstmord nicht. Der Tod war ihm schon oft begegnet und schien recht friedlich zu sein. Wenn seine Opfer den magischen Ort jenseits des materiellen Seins erblickten, trat Gelassenheit auf ihre Züge. Was sahen sie dort? Was wartete auf sie?
Die Vorstellung vom Tod beunruhigte ihn nicht. Nur der Dreck störte ihn. Der Tod war widerlich, übelriechend, unhygienisch.
Er musste noch weiter an den Feinheiten seines Plans feilen.
Er warf einen Blick auf die Kaffeetassen-Uhr an der Wand. Fünf Minuten würde er noch warten. Länger nicht.
Gelangweilt schaute er zu der Frau hinüber, versuchte, sie mit der Kraft seiner Gedanken dazu zu bringen, ihn noch einmal anzusehen. Sie tat es. Ihre rechte Augenbraue hob sich ein wenig, ihr Gesichtsausdruck war offen und warm. Im Grunde war sie recht anziehend. Er musterte sie eingehend. Vielleicht ein wenig älter als er es gern hatte, aber sehr gepflegt. Das war wichtig. Nur ihr braunes Haar gefiel ihm nicht. Sie sollte blond sein. Kokett warfsie die dunklen Locken mit der Hand über die Schulter. Er fixierte diese Hand. Ein Ehering.
Angewidert sah er beiseite. Untreue Ehefrauen ekelten ihn an. Jetzt hatte er endgültig lang genug gewartet. Ohne auf den fragenden Blick seiner Bewunderin zu achten, stand er auf. Auf dem Weg zur Tür ließ er den fast vollen Kaffeebecher in den Mülleimer fallen und zog wegen des kalten Windes draußen seinen Mantel fester um sich. Höflich hielt er dem Mann, der gerade hereinkam, die Tür auf, sah zu, wie er den Schnee von den Stiefeln stampfte, und grinste über sein Glück.
Genau das Opfer, auf das er gewartet hatte. Heute war der Unglückstag dieses Kerls.
S ECHZEHN
Detective Mason Callahan hielt die DVD an und drückte die Rücklauftaste. Während er sich den Clip mit dem Kuss noch einmal anschaute, trommelten seine Finger rhythmisch auf den Tisch. Mit einer neugierig hochgezogenen Augenbraue sah er die beiden Leute an, die mit ihm am Tisch saßen. Die Anspannung im Vernehmungsraum war greifbar. Dr. Campbell wandte sich errötend ab. Aber Harper starrte ihn mit kühlem Blick an.
»Sie beide haben es ganz schön eilig, was?« Mason zeigte mit dem Kopf auf den Fernseher, ohne den Blickkontakt mit Harper zu unterbrechen. »Aber irgendjemand war von dem, was er sah, alles andere als begeistert. Der Fluch am Ende sagt eigentlich alles.«
Harper starrte ihn nur schweigend an. Demonstrativ lehnte sich der große Mann auf dem billigen Stuhl zurück und kreuzte unter dem Tisch die Knöchel. Trotz der entspannten Pose strahlte er nur mühsam im Zaum gehaltene Gereiztheit aus. Dr. Campbell saß mit ineinander verschlungenen Händen und zusammengekniffenen Lippen am Tisch. Ihr Blick
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