Verderbnis
Niemand atmete. Alle rückten ein kleines Stück näher an den Monitor heran. Das Bild zeigte Marthas Bett: weiß, mit lauter Aufklebern auf dem Bettkasten und rosa Bettwäsche. Über die Tapete dahinter zog sich eine Bordüre aus Ballerinen, die Pirouetten tanzten. Aber niemand schaute die Wand oder die Bettbezüge an, sondern nur das, was auf dem Bett lag. Besser gesagt, den , der auf dem Bett lag.
Ein Mann in Jeans und T-Shirt mit klar definierten Muskeln, der sich mit beiden Händen zwischen die Beine griff. Gesicht und Hals waren unter einer bärtigen Santa-Claus-Maske versteckt. Caffery brauchte nicht unter die Maske zu schauen, um zu wissen, wie Moons Gesicht aussehen würde. Unter der Maske würde er grinsen.
55
A ls der Mittag vorüber war, begann eine Kumuluswolkenbank, die sich über dem westlichen Horizont zusammengeballt hatte, endlich nach Osten abzuziehen. Auf der Fahrt zum Pfarrhaus in Oakhill warf Caffery von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Wolken. Er saß auf dem Beifahrersitz eines nicht gekennzeichneten Mercedes-Vans; am Steuer saß ein Verkehrspolizist, der Schulterklappen und Krawatte abgenommen hatte. Caffery hatte Myrtle in sein Büro in Kingswood gebracht, seinen Wagen dort abgestellt und den Van mit Fahrer angefordert. Hinter ihm auf der Bank saßen Philippa und Rose; Jonathan und die Familienbetreuerin folgten in einem BMW . Rose war immer noch davon überzeugt, dass Martha versuchen würde, sie anzurufen, und wollte sich deshalb nie mehr als ein paar Schritte weit von ihrem Telefon entfernen. Caffery hatte es ihr trotzdem abluchsen können: Er hatte erklärt, für den Fall, dass Moon anriefe, müsse es in der Hand eines Profis sein. Tatsache war, der einzige Profi, in dessen Hände dieses Telefon gehörte, wäre ein professioneller, auf Geiselnahmen spezialisierter Unterhändler. Aber das erwähnte Caffery nicht. Von Anfang an war er entschlossen gewesen, den Fall nicht einem dieser Experten zu überlassen. Also steckte das Telefon in seiner Gesäßtasche, und alle Rufsignale waren laut eingestellt.
Kurz vor eins erreichten sie das Pfarrhaus. Der Fahrer stellte den Motor ab. Caffery blieb einen Moment lang sitzen und nahm die Umgebung in Augenschein. Die Vorhänge waren zugezogen, auf der Stufe vor der Haustür stand immer noch ein leerer Milchflaschenhalter, aber sonst war hier nichts mehr so wie an dem Tag, als er die Bradleys weggebracht hatte. Es wimmelte von Polizisten. Blaulichter blitzten, blau-weiße Absperrbänder flatterten, Vans parkten überall. Eine Einheit aus Taunton war abkommandiert worden und hatte Haus und Grundstück durchforstet. Ein Wagen der Hundestaffel parkte vor dem Haus; die Tiere starrten durch das vergitterte Heckfenster. Insgeheim war Caffery froh, dass die Hunde nicht draußen waren. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Moon sie mit erhobenen Händen im Pfarrhaus erwarten würde, aber er wollte sich auch nicht von einem Hund daran erinnern lassen, wie clever dieser Mistkerl war. Bisher hatte die Polizei wirklich eine miserable Leistung abgeliefert. Noch einen verwirrten Deutschen Schäferhund, der winselnd im Kreis herumliefe, würde er wahrscheinlich nicht ertragen.
Ein nicht gekennzeichneter Renault-Van parkte ungefähr zehn Meter weit entfernt. Drei Polizisten in Zivil lungerten daneben herum, rauchten Zigaretten und unterhielten sich: das Beobachtungsteam, das das Haus nach dem Auszug der Bradleys observiert hatte – in der Hoffnung, Moon werde zurückkommen und sein Gesicht zeigen.
Caffery stieg aus und ging auf sie zu. Zwei Schritte vor ihnen blieb er mit verschränkten Armen stehen. Er brauchte nichts zu sagen. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Die Unterhaltung der Männer erstarb, und einer nach dem andern drehte sich zu ihm um. Der eine ließ die Zigarette hinter dem Rücken verschwinden und sah Caffery tapfer lächelnd an; der Zweite stand stramm und starrte auf einen Punkt über Cafferys Schulter, als wäre der ein Ausbildungsoffizier. Und der Dritte schaute zu Boden und strich sich nervös das Hemd glatt. Na bravo, dachte Caffery: die drei Affen.
»Ich schwöre«, begann der eine und hob die Hand, aber Caffery brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen und schüttelte enttäuscht den Kopf. Er wandte sich ab und ging zum Haus, wo Jonathan stand, bleich und angespannt.
»Ich komme mit hinein. Ich will ihr Zimmer sehen.«
»Nein. Das ist keine gute Idee.«
»Bitte.«
»Jonathan, was soll das bringen?«
»Ich will mich vergewissern,
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