Verderbnis
aus dem Wasser und konzentrierte sich angestrengt auf das Kreisen des Sekundenzeigers ihrer Uhr. Vom Kanal vor ihr drang kein Laut außer dem steten Tröpfeln des Wassers von den Pflanzen und Wurzeln im Luftschacht. Als zehn Minuten vergangen waren, klapperte sie mit den Zähnen, aber nach und nach kehrte ihre Zuversicht zurück. Sie kroch lautlos auf Händen und Knien zurück, um ihren Rucksack zu holen. Das Wasser um sie herum machte kein Geräusch. Die tote Ratte stieß träge gegen die Bordwand und trieb dann in gemächlichen Schlangenlinien davon.
Sie hielt den Rucksack vor sich über Wasser und schob sich leise durch die Luke in das wärmere Wasser des vorderen Bereichs. Noch drei Schritte auf den Knien, dann konnte sie sich mit einer Hand an der Bordwand abstützen und aufstehen. Gebückt ging sie weiter, bis sie in der Spitze des Bugs angelangt war und sich aufrichten konnte. Ihr Kopf streifte die rostige, von Spinnweben bedeckte Unterseite des Decks. So stand sie bis zu den Hüften im Wasser und wartete eine Weile. Das Licht aus den Löchern schien ihr ins Gesicht.
An der Unterseite des Decks gab es einen Haken, an den sie ihren Rucksack hängen konnte, damit er trocken blieb. Sie fummelte das Handy heraus, zog es aus der Plastikhülle, schaltete es ein und prüfte, ob es ein Signal empfing. Nichts. Das kleine Funkmastsymbol war durchgestrichen. Sie atmete sehr flach und mit offenem Mund, um kein Geräusch zu verursachen, und schob sich langsam auf eins der Löcher in der Wand zu. Anfangs wahrte sie noch Abstand, hielt nur das Ohr an das Loch, ließ ihre Fantasie in den hallenden Tunnel hinauskriechen und suchte das Muster der Geräusche da draußen nach einem Hinweis darauf ab, dass sie nicht allein war. Sie atmete weiter geräuschlos, schob das Gesicht an das Loch und spähte hinaus.
Ungefähr fünf Meter vor ihr hing der Seesack am Haken, ein massiver Schatten. Aus dieser Nähe konnte sie erkennen, dass er frei von Moos und Schmutz war. Er musste noch vor Kurzem benutzt worden sein. In der letzten Nacht hatte sie keine Zeit gehabt, darauf zu achten. Wenn sie sich flach an die Bordwand drückte und die Wange tief in das Loch schob, konnte sie noch einen Teil des Tunnels erkennen. Und den hellen Fleck: den Kinderschuh. Das elektrostatische Prickeln, das sie schon einmal gespürt hatte, empfand sie hier stärker denn je. Sie war ganz nah. Martha musste hier unten gewesen sein. Es gab keinen Zweifel. Vielleicht hatte er sie hier vergewaltigt, vielleicht sogar ermordet.
Flea hielt das Handy aus dem Loch, streckte den Arm so weit hinaus in den Tunnel, wie sie konnte. Drehte es so, dass sie das Display im Blick hatte.
Kein Netz. Also, sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schaute nach oben, also blieb nur die Luke.
Sie schaltete das Handy aus, schob es in die Plastikhülle und steckte es wieder in den Rucksack. Dann legte sie die Hände an die Unterseite des Decks. Die Luke war von oben her zu öffnen. Das war nicht so einfach wie bei der letzten. Verrostet war sie auch. Sie nahm den Meißel aus dem Rucksack und schlug mit dem Griff unter die Luke. Ein paar Flocken Rost und Kohlenstaub rieselten herunter, aber die Luke bewegte sich nicht. Sie fischte das Schweizer Armeemesser aus dem Überlebensanzug und stocherte damit in dem Rost in der Fuge. Er war härter und stärker verkrustet als bei der Luke im Schott. Sie musste die Knie beugen, den Ärmel des Anzugs ein Stück herunterziehen und um das Messer wickeln, damit die Klinge nicht zurückschnappte. Bei den besonders harten Stellen schwang sie das Messer wie einen Hammer über dem Kopf und schlug schräg gegen das Deck.
Als die Fugen frei waren, hämmerte sie noch dreimal mit dem Meißelgriff gegen die Luke. Noch immer rührte sich nichts. Rost gab es keinen mehr; also sollte die Luke eigentlich nachgeben. Sie klappte das Messer wieder auf, um es noch einmal zu versuchen, und legte die rechte um die linke Hand, um mehr Kraft aufzubringen. Aber das Messer war dieser Aufgabe nicht gewachsen: Beim sechsten Schlag brach es ab, ihre Hand wurde abgelenkt, fuhr herunter und landete auf ihrem Oberschenkel. Die abgebrochene Klinge drang durch den Anzug und bohrte sich ins Fleisch.
Sie riss das Bein hoch und drückte vor Schmerz den Rücken durch. Die Stahlklinge steckte tief im Muskel, und nur der kleine rote Griff ragte aus dem blauen Neopren. Sie vergaß ihr Erste-Hilfe-Training, riss das Messer sofort heraus und ließ es in den Dreck fallen. Sie
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