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Verderbnis

Titel: Verderbnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Tür stehen geblieben. »Janice?«, hatte er nur gesagt. »Janice?« Sie hatte ihm nicht geantwortet. Sie fand es mühsam, ihn auch nur anzusehen, und irgendwann war er wieder gegangen. Sie fragte sich nicht, wohin. Sie saß einfach da und hielt die Arme um den Oberkörper geschlungen, und Jasper der Hase klemmte fest unter ihrer Achsel.
    Sie versuchte sich an den letzten Augenblick zu erinnern, den sie mit Emily verbracht hatte. Sie waren zusammen im Bett gewesen, das wusste sie noch, aber sie entsann sich nicht mehr, ob sie auf der Seite gelegen und sich an Emily geschmiegt, ob sie auf dem Rücken gelegen und Emily im Arm gehalten oder – und dieser Gedanke war schmerzlicher als alles andere – ihr beim Einschlafen den Rücken zugewandt hatte. Die schlichte Wahrheit war, dass sie eine Flasche Prosecco mit Paul Prody geleert und an ihn gedacht hatte, wie er auf dem Klappsofa im Wohnzimmer schlief. Sie hatte nicht daran gedacht, Emily im Arm zu halten und ihren Duft so tief einzuatmen, wie sie nur konnte. Jetzt kämpfte sie um eine Erinnerung, streckte sich danach wie eine Schwimmerin, die ans Ufer strebt. Sie suchte und suchte nach einem winzigen Stückchen Emily. Nach dem Geruch ihrer Haare, dem Hauch ihres Atems.
    Janice beugte sich vor und legte die Stirn auf den Tisch. Ein Zittern ging durch ihren Körper, und sie empfand den überwältigenden Drang, den Kopf immer wieder auf die Tischplatte zu schlagen. Sich aufzuspießen. Ihre Gedanken zum Schweigen zu bringen. Sie presste die Augen zu und versuchte, sich auf etwas Praktisches zu konzentrieren. Die Parade der Arbeiter, die bei der Renovierung im Haus ein- und ausgegangen waren. Emily hatte sie geliebt: Sie durfte auf ihre Leitern klettern, ihre Werkzeugkisten und Lunchboxen durchwühlen und ihre eingepackten Sandwiches und Chipstüten inspizieren. Janice suchte nach Moons Gesicht unter all diesen Männern, versuchte ihn zu sehen, wie er in der Küche stand und eine Tasse Tee trank, aber es gelang ihr nicht.
    »Janice, Liebes?«
    Sie fuhr hoch. Nick stand in der Tür. Sie hielt ihr rotes Haar am Hinterkopf hoch und massierte sich müde den Nacken.
    »Was ist?« Janices Gesicht fühlte sich an wie Eis. »Was ist los? Ist etwas passiert?«
    »Nein. Nichts Neues. Aber ich muss mit Ihnen sprechen. DI Caffery möchte, dass ich Ihnen ein paar Fragen stelle.«
    Janice legte die Hände auf den Tisch und schob ihren Stuhl zurück. Langsam und schwerfällig stand sie auf. Wie eine Marionette musste sie aussehen, dachte sie, als sie mit leicht ausgestreckten Armen und schweren Beinen hinüber in das große Wohnzimmer schlurfte. Das vorbereitete Feuerholz im Kamin, das noch nicht angezündet worden war, die großen, gemütlichen Sessel, das Sofa – alles stand schweigend da, als ob es wartete, und der Geruch von Holzrauch hing in der Luft. Sie sank auf das Sofa. Irgendwo am anderen Ende des Hauses hörte sie einen Fernseher. Vielleicht saßen ihre Schwester und ihr Mann dort und hatten den Apparat laut gestellt, damit sie »Emily« sagen konnten, ohne dass Janice es hörte. Denn dann würde sie vielleicht schreien, würde das Cottage mit ihrer Stimme erfüllen, bis die Fensterscheiben klirrten und zersprangen.
    Nick schaltete eine kleine Tischlampe ein und setzte sich ihr gegenüber. »Janice«, fing sie an.
    »Es ist nicht nötig, Nick. Ich weiß, was Sie sagen wollen.«
    »Ja?«
    »Es geht nicht um Emily. Es geht um uns . Er hat es auf uns abgesehen, richtig? Auf mich und Cory. Nicht auf Emily. Ich habe es herausbekommen.« Sie tippte mit dem Finger an die Stirn. »Mein Gehirn schwitzt, Nick, weil es sich bemüht, alles zusammenzusetzen. Ich habe alle Informationen, die die wohlmeinende, aber doch ein wenig unfähige Polizei mir gegeben hat. Ich habe alles zusammengefügt, zwei und zwei zusammengezählt und zehn herausbekommen. Es geht um uns . Um mich und Cory. Um Jonathan Bradley und seine Frau. Um die Blunts, die Grahams. Um die Erwachsenen. Und die Polizei glaubt es auch. Stimmt’s?«
    Nick legte die Hände übereinander. Ihre Schultern hingen herab, und sie senkte den Kopf. »Sie sind clever, Janice. Wirklich clever.«
    Janice saß still da und starrte unverwandt auf Nicks Scheitel. Am anderen Ende des Hauses jubelte jemand im Fernsehen. Draußen fuhr ein Auto vorbei, und das Scheinwerferlicht fiel für einen kurzen Moment auf die Möbel im Raum. Janice dachte an DI Caffery, wie er auf der Bank im Garten neben ihr gesessen hatte. Sie dachte an sein Notizbuch

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