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Verderbnis

Titel: Verderbnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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hättest dieses Sandwich nicht anrühren dürfen. Du hättest nein sagen sollen. Traue nie einem Mann mit sauberer Hose.«
    »Mit sauberer Hose?«
    »Das habe ich gesagt. Ich habe gesehen, was du getan hast mit dem Mann mit der sauberen Hose.«
    Tränen liefen Flea über das Gesicht, und ein Schluchzen entrang sich ihrer Brust. Sie war so hoch auf diesen Baum geklettert, aber jetzt war es kein Baum mehr, sondern eine Treppe. Eine Treppe wie auf einer Escher-Zeichnung, die in einem wackligen Gebäude in Barcelona anfing und sich dann in die Höhe und über die Dächer wand und nackt und ungestützt in den blauen Himmel ragte, wo die Wolken vorüberjagten. Mum und Dad befanden sich ganz oben. Dad war ein paar Stufen heruntergekommen und streckte ihr die Hand entgegen. Zuerst hatte sie froh danach gegriffen, denn sie wusste, Dads Hand war die Rettung, aber jetzt weinte sie, denn so sehr sie sich auch bemühte, sie zu ergreifen, er wich ihr immer wieder raffiniert aus. Er wollte, dass sie zuhörte.
    »Ich habe dir gesagt, das ist kein Bonbon. Es ist kein Bonbon.«
    »Was?«
    » Das ist kein Bonbon, Flea. Wie oft muss ich dir das sagen …? «
    Sie öffnete die Augen und befand sich wieder in der Schute. Die letzten Reste des Traums geisterten in ihrem Kopf herum, und auch Dads Stimme: Das ist kein Bonbon . Sie lag im Dunkeln, und ihr Herz klopfte wie verrückt. Mondlicht fiel durch die beiden Bullaugen in der Bordwand. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Drei Stunden waren vergangen, seit sie hier heraufgekrochen war, mit schmerzenden Gliedern und schwindlig vor Erschöpfung und Blutverlust. Sie hatte das T-Shirt wieder fest um die Wunde gewickelt, und es schien die Blutung vorläufig zu stoppen. Doch sie hatte schon viel zu viel Blut verloren. Ihre Haut fühlte sich kalt und klamm an, und ihr Herz schlug unregelmäßig, als hätte sie sich reines Adrenalin gespritzt. Sie hatte den Grubenstempel unter der Luke abgebaut und quer über das Sims gelegt und war dann zwischen Stempel und Bootswand gekrochen, als sie spürte, dass der Blutverlust sie ohnmächtig zu machen drohte. So hatte sie auf der Seite gelegen, einen Arm ausgestreckt und fest an die Bordwand gedrückt.
    Der Grubenstempel hatte verhindert, dass sie besinnungslos ins Wasser gefallen war, aber als Werkzeug, um hier herauszukommen, taugte er nicht. Stundenlang hatte sie damit gekämpft, obwohl sie im Grunde ihres Herzens wusste, dass sie die Luke mit der schweren Seilwinde obendrauf niemals aufstemmen könnte. Es musste eine andere Möglichkeit geben.
    Das ist kein Bonbon, Flea …
    Sie verrenkte den Hals, um einen Blick auf das Schott zu werfen, durch das sie gekommen war. Hinter ihr neigte der Lastkahn sich abwärts, und im Heckbereich reichte das Wasser fast bis unter die Decke. Kein Bonbon . Acetylen – das Gas, das der Klumpen Kalziumkarbid produzieren würde, wenn man ihn ins Wasser warf – war etwas leichter als Luft. Sie stemmte sich auf den Ellbogen hoch und betrachtete den Wasserspiegel und dann die von Spinnweben und Rost bedeckte Unterseite des Decks. Sie legte den Kopf in den Nacken und inspizierte das Leinenfach. Ein kleines Loch war hineingerostet, aber sie würde ihre Zeit verschwenden, wenn sie versuchte, es weiter aufzubrechen, denn der Auslass, durch den man das Tau nach außen geführt hatte, war winzig; sie hatte schon hinaufgeleuchtet und es gesehen: Er war so groß wie eine Faust. Aber dieses Leinenfach setzte in ihrem Kopf etwas in Gang. Acetylen würde in einem solchen Kasten nach oben steigen. Es würde sicher auch in den Laderaum dringen, aber vielleicht – vielleicht  – würde es nicht unter dem oberen Rand der Luke zum Heck hindurchfließen. Und wenn sie dort hinten wäre, hinter dem Schott, und das Gas hier vorn …
    Es war gefährlich, es war wahnsinnig, und es war genau das, was Dad getan hätte, ohne eine Sekunde zu zögern. Ächzend stemmte sie den Grubenstempel von dem Sims und ließ ihn ins Wasser plumpsen. Sie schwang ihre Beine hinunter und spürte das mörderische Gefühl, mit dem das Blut aus ihrem Kopf in den Oberkörper rauschte, und das Stolpern ihres Herzschlags. Sie musste mit geschlossenen Augen sitzen bleiben und gleichmäßig und konzentriert atmen, bis der Kahn um sie herum nicht mehr schwankte.
    Als sich ihr Herzschlag wieder beruhigt hatte, hob sie die Hand und ertastete den Klumpen Kalziumkarbid in ihrem Rucksack. Sie hatte ihn fast herausgeschält, als sie ein Geräusch aus dem Tunnel vernahm. Das

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