Vereint
Eindeutig ging er körperlicher Arbeit nach. Er war schlank, aber stramm gebaut. Seine langen braunen Haare, die von der Sonne gebleicht waren, hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, allerdings hingen mehrere Strähnen heraus. Seine Augen konnte ich nicht sehen, da er eine Fliegersonnenbrille trug.
»Redest du nicht mit mir?«, fragte er grinsend und trank einen Schluck aus der Wasserflasche in seiner Hand.
»Doch«, erwiderte ich, noch immer leicht erschrocken. Ich hatte nicht erwartet, dass mein Vater Nachbarn haben würde. Schließlich war das hier ein Boot, Herrgott noch mal! Wie viele Menschen wohnten schon auf ihren Booten?
»Wo ist Abe? Oder hast du dich einfach so aufs Boot geschlichen?« Der ließ einfach nicht locker.
»Keine Ahnung. Ich bin gerade aufgewacht, und da war er weg«, erwiderte ich.
Der Typ hob eine Augenbraue. »Er weiß also, dass du hier bist?«
Das waren ja Verhörmethoden wie bei der Polizei! »Abe ist mein Vater. Er weiß sehr genau, dass ich hier bin«, antwortete ich etwas genervter, als ich es vorgehabt hatte.
Er verzog den Mund zu einem breiten Grinsen und entblößte dabei perfekte weiße Zähne. Von einem Typen mit solchen Haaren, der auf einem Boot lebte, hätte ich das gar nicht erwartet. »Ah, also du bist Blaire! Nett, dich kennenzulernen. Ich bin Captain«, sagte er und trank noch einen Schluck.
»Captain?«, fragte ich, bevor ich mich versah. Ich wusste, es klang unhöflich.
»Japp!«
»Das ist … das ist ein komischer Name, hm?«, meinte ich.
Er lachte leise auf. »Nicht wirklich. Ich wohne hier auf dem Boot, seit ich sechzehn bin. Das sind jetzt zehn Jahre. Ich schätze, wenn überhaupt jemand ein Captain ist, dann ich.« Er zwinkerte mir zu, drehte sich um und verschwand in seiner Kajüte.
Wieder allein, lehnte ich mich zurück und legte meine Beine auf einen großen Eimer, der verkehrt herum vor mir stand. Mein Handy klingelte, und ich war hin- und hergerissen, ob ich daraufschauen sollte oder nicht. Wenn es Rush war, dann würde ich rangehen wollen. Vielleicht wurde es ja auch langsam Zeit. Er musste wissen, wo er mich finden konnte.
Ich sah nach, und – na klar! – da stand Rushs Name auf meinem Display. Ich nahm den Anruf entgegen und hielt mir das Handy ans Ohr. Ich war mir nicht sicher, was ich ihm sagen sollte. Als ich abgehauen war, war ich in völlig aufgelöstem Zustand gewesen. Hatte Abstand und Zeit benötigt. Nun vermisste ich ihn. Wie konnte ich ihn heiraten, wenn ich ihm nicht mal beistehen konnte, wenn er mich brauchte? Würde ich immer so durchdrehen, wenn er sich mal nicht gleich um mich kümmern konnte?
»Blaire? Bitte, Gott, sag mir, dass du drangegangen bist!« Rushs Stimme war voller Panik. Ich bekam ein schlechtes Gewissen.
»Ja, bin ich«, sagte ich.
»Baby, wo bist du? Bitte sag mir, wo du bist. Ich verlasse dich nie mehr, das schwöre ich! Ich habe die Schnauze voll, mich mit dem Mist meiner Schwester zu beschäftigen und ihr die Eltern zu ersetzen. Ich brauche nur dich! Bitte, wo bist du, sag? Ich bin in Rosemary, aber da bist du nicht.« Er war so besorgt. Ich hatte ihm Angst gemacht. Mir wurde eng um die Brust, und meine Augen brannten.
»Ich bin bei meinem Dad in Key West«, sagte ich.
»Fuck! Hat er dich vom Flughafen abgeholt? Wohnst du auf seinem Boot? Gibt er dir auch gut zu essen?« Nach diesen vielen Fragen hielt Rush inne und holte tief Luft. Er rang hörbar um Fassung.
»Ja, er hat mich abgeholt, und mir geht’s gut. Davor hatte er schon eingekauft, ich habe also schon etwas gegessen.« Ich hielt inne und kniff fest die Augen zusammen, damit ich nicht zu heulen anfing. »Es tut mir leid. Ich war total durch den Wind und musste von alldem weg. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken.«
»Na, du hattest ja auch jedes verdammte Recht dazu, durch den Wind zu sein. Du hast ohne mich große Angst ausstehen müssen, und ich hasse mich dafür. Du hättest mich verlassen sollen. Zur Hölle, ich an deiner Stelle hätte mich verlassen!« Wieder holte er tief Luft. »Kann ich dich holen kommen? Bitte! Ich brauche dich, Blaire!«
Würde das immer so weitergehen? Würde ich nach Nan immer erst an zweiter Stelle stehen? Würde unser Kind an zweiter Stelle stehen? Klar, Rush dachte, er hätte mit Nan abgeschlossen, aber ich wusste es besser. Er liebte seine Schwester, und er würde es nie im Leben fertigbringen, sie zu ignorieren, wenn sie ihn brauchte. Ich schätzte, die Frage, die ich mir stellen musste, lautete: Konnte
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