Verfallen
Wahrnehmung haben nichts mit dem Wetter zu tun. Es scheint, als hätten sich die Farben der Umgebung verändert und als zittere alles auf bizarre Weise. Als trügen die Geräusche auf einmal weiter und klängen heller. Die Verwandlung fand in dem Moment statt, als ich genau vor mir im Gebüsch eine Bewegung wahrnahm.
Ein weißer Hund taucht auf, nur Rippen und Rückgrat. Wie ein Spukbild huscht er durch die Zweige davon. Dann tritt sein Ebenbild hervor, bleibt stehen und sieht mich an. Dunkle Augen in einem schmalen Kopf. Ein Blick, wie von einem außerirdischen Wesen, gelassen und unheimlich zugleich. Er spitzt die Ohren, dreht den Kopf weg und springt in die Büsche.
Kalte, prickelnde Schauder durchzucken mich.
Wie in Zeitlupe schaue ich nach links: wogendes Schilf, Bäume, Sträucher. Dann nach rechts: wogendes Schilf, Bäume, Sträucher. Hinter mir liegen Schilf und Wasser, ausgedehnt und verlassen.
Vor mir steht Hugo.
Breitbeinig.
Einen verbissenen Zug um den Mund. Er sieht mich an, und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Seine Augen unter den eckigen Augenbrauen blitzen mich an.
Ein, zwei Schritte, dann hat er mich erreicht. Zu schnell, um flüchten zu können, ja, um überhaupt zu reagieren.
Im nächsten Moment knie ich auf dem sumpfigen Boden, und ein dumpfer Schmerz durchfährt meine Beine. Mein Kopf wird nach hinten gezogen, sodass meine Kehle entblößt ist.
»Drecksweib«, flüstert er mir ins Ohr. Meine Haare hält er mit einer Faust fest umklammert.
Ich kratze nach ihm, versuche, seine Ohren oder Augen zu erwischen, irgendetwas, aber er zwingt mich noch weiter rückwärts. Dann packt er mich an einem Handgelenk und zieht mich mit sich ins Wasser.
Ich atme hörbar ein und aus. Rau, pfeifend.
Eiskaltes Wasser durchdringt meine Jeans, kriecht in die Ärmel und unter das Rückenteil meiner Jacke. Ich versuche zu schreien, um Hilfe zu rufen, stoße aber nur heiseres Krächzen aus.
Er stemmt ein Knie auf meine Hüfte, grob und schwer, und drückt mich unter Wasser. Ich strample und gerate dabei mit den Beinen in das Schilf und die dicke Schlammschicht am Grund. Mit dem freien Arm rudere ich in der Luft herum. Ich öffne den Mund, um um Hilfe zu rufen, schlucke dabei aber Wasser.
Hugo zieht meinen Kopf nach hinten, weiter unter Wasser, und rammt mir das Knie in den Magen, um mich festzuhalten. Sein volles Gewicht lastet jetzt auf mir.
Ich kneife die Augen fest zusammen, Luftblasen steigen von meinem Mund auf. Ich wehre mich, schüttele den Kopf wild hin und her. Kostbarer Sauerstoff entweicht meinen Lungen. Ich bekomme etwas zu fassen, was sich wie Kleidung anfühlt, und ziehe daran. Es nützt nichts.
Ich liege schon fast auf dem Boden und fühle kalten Schlamm und Schlick auf meiner Brust. Meine Brust brennt, meine Glieder kribbeln.
Eine abscheuliche Vision durchzuckt mich. Ich sehe mich hier im Schilf liegen, Tage später. Meine Leiche ist von Wasser aufgedunsen, meine Haut blau und glänzend. Meine Haare treiben wie ein Fächer im Wasser, Blätter, abgebrochene Schilfstängel und Baumrindenstückchen haben sich darin verfangen. Meine Augen gleichen trüben, blaugrauen Käppchen, genau wie die der vielen toten Karpfen, die ich hier habe treiben sehen. Am Ufer stehen Polizeiautos. Ich sehe Flatterband, Blaulicht, Suchhunde und Leute in weißen Anzügen.
War es das?
Hört hier alles auf?
Genau hier, an der Stelle, an der Dianne und ich geschworen haben, einander nie aus den Augen zu verlieren? Wo wir uns immer wiederfinden wollten?
So können wir uns nie verlieren.
Ich lasse mich in ein dunkles Loch meines Bewusstseins sinken, tiefer und immer tiefer. Ich brauche nur den Mund zu öffnen und das kalte Wasser hineinströmen zu lassen, dann ist es vorbei.
Dann endet mein Leben.
Als Kind habe ich manchmal versucht, mir vorzustellen, wie ich sterben würde. Ich dachte mir verschiedene Szenarien aus, aber alle hatten eines gemeinsam: Ich war alt. Alt und verbraucht. Ich hatte mein Leben gelebt und wartete neugierig auf das, was danach kommen würde. Zufrieden, ja erwartungsvoll würde ich weggleiten, nach einem langen, schönen, guten Leben.
Nie hätte ich mir ausgemalt, dass ich kämpfend und nach Luft schnappend einen grausamen Tod erleiden müsste. Dass ich im eiskalten Wasser desselben Sees ertränkt würde, in dem ich schwimmen gelernt habe, an dem ich zum ersten Mal geküsst wurde und an dem Dianne und ich von besten Freundinnen zu Schwestern wurden.
Es ist zu früh. Ich darf das nicht
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