Verfallen
ihrer eigenen grenzenlosen Leidenschaft mitreißen lassen, und niemand in ihrer Umgebung hat sie vor sich selbst beschützt. Ich bin sicher, dass sie weitergegangen ist, als sie selbst gewollt hat, und dass sie es hinterher unendlich bereute.
Hier ist es tief genug, das merke ich an den Bewegungen und der Farbe des Wassers. Das Boot schaukelt hin und her, wiegt sich in den Wellen, die der starke Wind aufpeitscht. Ich fasse die Pistole am Lauf und halte sie über Bord. Das kalte Wasser schwappt über meine Hand und durchweicht die Ärmelmanschette meiner Jacke.
Die schwere Waffe versinkt pfeilschnell in der Tiefe.
Sie ist weg. Als hätte sie nie existiert.
»Das bleibt unter uns«, flüstere ich. »Für immer.«
Ich bin mir natürlich bewusst, dass ich etwas Verbotenes tue. Vielleicht sogar etwas Unmoralisches. Aber ich tue es nicht für die erwachsene Dianne, die ich in dem französischen Krankenhaus zurücklassen musste. Das hier ist für die Dianne mit den Sommersprossen. Meine mutige, allwissende große Schwester, das Mädchen, das sie war, bevor sie sich von mir löste und ihren eigenen, destruktiven Weg ging. Diese frühere Dianne kenne ich sehr gut.
Sie war im Grunde ein guter Mensch.
Schilfhalme schaben am Boot entlang. Unbemerkt bin ich näher ans Ufer getrieben.
Ich blicke mich um zu dem kleinen Hafen, ein verschwommener Fleck in der Ferne. Meine Arme und Rückenmuskeln brennen von der ungewohnten Anstrengung, und meine Füße und Beine prickeln vor Kälte. Ich ziehe den Schal fester um den Hals zusammen und schlage ihn einmal um. Meine Finger bewegen sich wie in Zeitlupe, als gefrören sie von innen.
Ich sehe keinen Sinn darin, das ganze Stück zurückzurudern, gegen den starken Wind. Das kleine Boot ist ganz leicht. Vielleicht kann ich es hinter mir her über den Pfad zurück zum Hafen ziehen oder es irgendwo auf halbem Wege liegen lassen.
Ich greife nach den kalten Paddeln und rudere weiter durch das Schilf ans Ufer. Dort springe ich heraus. Sofort versinke ich im Schlick, sodass ich kaum noch herauskomme. Das Wasser ist hier tiefer, als ich dachte; es reicht mir bis zu den Oberschenkeln. Ich halte mich seitlich am Boot fest und ziehe es mit mir ans Ufer.
Triefend nass bleibe ich stehen. Ich wringe so viel Wasser wie möglich aus meinen Hosenbeinen und stampfe mit den Füßen auf den Boden. Ich kann gerade so über das Schilf hinwegsehen. Jenseits des Badesees sehe ich Leute mit Hunden Gassi gehen. Hier, an der Stelle, an der Dianne und ich vor siebzehn Jahren unsere Freundschaft besiegelten, stehe ich jetzt allein.
Ich habe Dianne vierundzwanzig Jahre lang gekannt. Meine Biographie könnte nicht erzählt werden, ohne auch auf ihre einzugehen. Alles war miteinander verwoben: unsere Kindheit, unsere Ausbildungszeit und unsere Erinnerungen. Alles. Unsere Beziehung war stark. Unzerstörbar.
Und doch waren wir zwei unterschiedliche Menschen. Dass wir größtenteils in derselben Familie aufwuchsen, konnte unsere verschiedenartigen Charaktere nicht wettmachen. Wir strebten unterschiedliche Ziele an, setzten unterschiedliche Prioritäten im Leben.
Es war also nur eine Frage der Zeit, wann wir auseinanderdriften würden.
Inzwischen weiß ich, dass dieser Prozess schon vor vielen Jahren eingesetzt hat – vielleicht war er bereits in vollem Gange, als sich Dianne damals in der Kneipe weigerte, unser Spiel mit den Doppelgängern weiterzuspielen.
Im Nachhinein gab es einige solcher kleinen Begebenheiten. Scheinbar unbedeutende Haarrisse, die nach und nach so zahlreich wurden, dass sie den Sockel zum Bersten bringen konnten. Ich habe nur nicht aufmerksam genug darauf geachtet.
Ich habe Dianne losgelassen, wenn sie sich zu weit entfernte, den Blick abgewandt, wenn sie Dinge tat, die ich nicht sehen mochte, und mir die Ohren zugehalten, wenn sie etwas sagte, was ich nicht hören wollte.
Die Kluft zwischen uns wurde immer größer. So breit wie eine Schlucht. Worte und Gefühle der Verbundenheit wurden immer seltener und verloren sich in dieser Leere. Versanken in der unendlichen Tiefe, ohne dass eine von uns noch darauf achtgab.
Mein Festhalten an Dianne war gleichbedeutend mit dem Festhalten an einem Traumbild, an unsere gemeinsame Kindheit und an allem, was ich kannte und was für immer unverändert bleiben sollte.
Auch wenn sich die Realität längst gewandelt hatte.
57
Weder hat der Wind plötzlich aufgefrischt oder gedreht, noch hat es angefangen zu regnen – die Veränderungen in meiner
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