Verfallen
über einige abgebrochene Äste hinweg und lasse den Blick über den See und das stehende, etwa brusthohe Wasser zwischen dem Schilf schweifen.
Das ist von jetzt an unsere Stelle. Sollten wir uns je aus den Augen verlieren, hinterlassen wir hier eine Nachricht für die andere. So können wir uns nie verlieren.
Ich will nicht weinen. Ich habe bei Diannes Einäscherung schon genug geweint und in den Nächten davor und danach kein Auge zugetan.
Noch immer umklammere ich krampfhaft die Segeltuchtasche, die ich mit beiden Armen an mich gedrückt halte. Ich blinzle die Tränen aus meinen Augen und gehe hinunter ans Ufer.
Das Wasser ist bräunlich-schmutzig, der Grund nicht erkennbar.
Jetzt, wo ich hier stehe, zweifle ich an meinem Plan. Das Wasser ist vermutlich nicht viel tiefer als sechzig Zentimeter. Wenn ich sie hier versenke, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie gefunden wird. Im Frühjahr zum Beispiel, wenn die Stadt mit der Uferpflege beginnt.
Sie darf nicht gefunden werden.
Ich wende mich vom Wasser ab und folge wieder dem Pfad. Viele Uferabschnitte sind genauso wenig für mein Vorhaben geeignet, weil sie mit Schilf zugewuchert sind. An anderen Stellen wachsen Sträucher, die halb im Wasser verschwinden. Die wenigen offenen Bereiche, die ich passiere, kommen wegen des zu flachen Wassers ebenfalls nicht infrage.
Ich setze meinen Weg fort, bis ich nach einer ganzen Weile in die Nähe des Freizeithafens gelange. An den Stegen liegen kleine Segelboote, eine Schaluppe und hier und da ein Ruderboot. Seitlich daneben, in der Nähe des Gebüschs, liegen ein paar Ruderboote kieloben im Gras.
Vorsichtig blicke ich mich um. Niemand zu sehen. Die einzigen wahrnehmbaren Geräusche sind das Klappern der Seile gegen die Masten der Segelboote und das leise Plätschern des Wassers am Ufer.
Ich drehe das erste Ruderboot um, mit der offenen Seite nach oben. Es ist ein kleines grünes Boot aus verblichenem Kunststoff, vor Algen ganz glitschig und ungewöhnlich leicht. Ich betrachte es von allen Seiten, kann aber keine Löcher oder Risse entdecken. Die Ruder stecken in den Dollen. Ich schleppe das Boot ans Wasser und schiebe es hinein. Es schwimmt.
Ohne zu zögern gehe ich ins Wasser. So nah am Rand ist es flach, aber jetzt schon eisig kalt. Ich wate weiter hinein, bis das Wasser mir bis zu den Knien reicht, lege dann den Rucksack ins Boot und klettere hinterher.
Das Gefährt schaukelt gefährlich unter meinem Gewicht. Ich setze mich auf die Bank genau in die Mitte. Seewasser tropft aus meiner Jeans auf das harte Plastik. Meine Turnschuhe sind vollkommen verdreckt.
Ich greife nach den Paddeln und rudere dicht am Ufer entlang zurück. Bis ich mein Ziel erreicht habe, tun meine Rückenmuskeln gemein weh, und ich bin ganz außer Atem. Ich lasse die Paddel los und strecke den Rücken. Das kleine Boot dümpelt steuerlos herum, etwa zwanzig Meter vom Schilf entfernt. Ich weiß, dass das die richtige Stelle ist, auch wenn ich von hier aus nur Schilfdickicht und Baumwipfel erkennen kann, die sich leicht im Wind wiegen.
Ich zittere. Meine Füße und Unterschenkel sind mittlerweile gefühllos. Eisklumpen, die an meinen Knien hängen.
Ich starre zum Ufer und versuche, mir Dianne vorzustellen, wie sie vor so vielen Jahren dort hinter diesem Schilf vor mir gestanden hat. Sommersprossen im Gesicht, dunkle Haare, die ihr in Strähnen über Stirn und Wangen fielen.
Keine Sekunde lang kam es mir in den Sinn, dass sie mich ebenso sehr brauchte, wie ich sie. Doch genau so war es. Deshalb fand sie es wichtig, unsere Verbindung zu bestätigen.
Ob es sehr schwer für sie war, mir immer voraus zu sein, um die aufgezwungene Rolle der großen Schwester zu erfüllen? Immer die Stärkere sein zu müssen? Die Klügere? Auf alles eine Antwort zu wissen?
Ich öffne den Rucksack und betrachte die Pistole, die bedrohlich im Segeltuch glänzt. Um diese Waffe ging es. Die Waffe mit ihren Fingerabdrücken, der unumstößliche Beweis, dass niemand anders als Dianne den armen Bernard Bonnet erschossen hat.
Ich glaube nicht, dass Hugo sie dazu gezwungen hat. Dianne hat es aus freiem Willen getan. Weil sie ihn und seine Freunde beeindrucken wollte. Weil sie zu ihnen gehören wollte.
Dianne ist immer einen Schritt weitergegangen als die Menschen in ihrer Umgebung. Das lag in ihrem Charakter begründet. Auch jetzt hat sie eine Grenze überschritten, in einem dummen, gefährlichen Rausch der Verliebtheit und des blinden Idealismus. Dianne hat sich von
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