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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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zulassen. Nicht jetzt, wo ich mich bis über beide Ohren in Erwin verliebt habe und er sich in mich. Wenn ich jetzt sterbe, würde er nicht einmal erfahren, was ich hier eigentlich wollte, denn ich habe es ihm nicht erzählt. Ich darf nicht sterben, jetzt, wo ich zum ersten Mal im Leben weiß, was ich will.
    Ich stelle mir meine Eltern vor, die erschüttert nebeneinander im Wohnzimmer sitzen, meine Brüder schweigend an ihrer Seite. Das Bild einer zerbrochenen Familie. Ihr Leben lang würden sie sich fortan fragen, was ihre Tochter, ihre Schwester an diesem abgelegenen Ort zu suchen hatte.
    Hugo stützt sich auf mich. Er hat jetzt die Hände um meinen Hals gelegt und drückt mich mit seinem ganzen Gewicht auf den Grund. Meine Brust brennt höllisch, meine Muskeln schmerzen, und jede Faser meines Körpers schreit nach Sauerstoff. Leben. Jede einzelne Zelle ringt darum.
    Ich.
    Will.
    Leben.
    In einer letzten Kraftanstrengung taste ich im schlammigen Boden nach der Gesäßtasche meiner Jeans. Mit einer Hand fahre ich durch die dünne Schlickschicht unter meinem Körper. Ich drehe meine flache Hand um, die quälend langsam auf mein Kommando reagiert.
    Sie ist noch da. Sie steckt noch an derselben Stelle, an die ich sie geschoben habe, bevor ich ins Auto stieg.
    Meine Finger finden kaum Halt an der glatten Oberfläche. Ich schiebe die Metalldose in meine Hand, befühle die Oberseite, sie liegt richtig.
    Nicht loslassen. Nicht verlieren.
    Festhalten.
    Nur eine Chance.
    Ich hebe meine Hand, halte sie über die Wasseroberfläche, drücke auf den Knopf und schwenke die Dose so weit wie möglich hin und her, um die Trefferchance zu erhöhen.
    Es funktioniert. Hugo lockert seinen Griff. Abrupt lässt er mich los.
    Ich strample mich unter seinem heftig zuckenden Körper hervor, schiebe ihn von mir weg und schieße aus dem Wasser. Mit aufgerissenem Mund hole ich tief Luft, noch einmal und noch einmal. Keuchend bahne ich mir den Weg ans Ufer, Schritt für Schritt durch den zähen Schlamm. Einen Meter noch, einen halben Meter.
    Am Ufer trippeln die Windhunde nervös hin und her. Sie bellen nicht, zittern aber und spitzen die Ohren. Sie würdigen mich keines Blickes, als ich mich aufs Trockene werfe und weiterkrieche.
    Am Baum knie ich mich hin, richte mich dann am Stamm auf und drehe mich um.
    Hugo spritzt sich Wasser ins Gesicht, das er mit beiden Händen aus dem See schöpft. Er schnappt nach Luft, japst hoch und durchdringend und gerät sichtlich in Panik. Er lässt sich auf die Knie fallen und beugt sich nach vorn, um den ganzen Kopf ins Wasser zu stecken.
    Mein Blick fällt auf das Ruderboot, das immer noch an derselben Stelle liegt. Eines der Paddel ist in den Sand gefallen.
    Dann schaue ich wieder Hugo an, der im Wasser zappelt. Er ist vorübergehend erblindet, daran erinnere ich mich aus der Gebrauchsanweisung. Er bekommt kaum Luft und steht vermutlich Todesängste aus.
    Doch durch die große Menge Wasser, die ihm zur Verfügung steht, kann es ihm schon in wenigen Minuten wieder besser gehen. Schon in einer Minute.
    Und dann? Wird er dann seinen Plan zu Ende führen?
    Eine unglaubliche Wut steigt in mir auf.
    Ich hasse diesen Mann, hasse ihn mit meinem ganzen Wesen. Ich hasse, was er ist, und alles, was er verkörpert.
    Dieser Mann hat Dianne ermordet und mindestens zwei andere Menschen kaltblütig erschossen. Hugo Sanders ist kein Mensch, sondern ein feiger Mörder.
    Ich hebe das Paddel auf und gehe zurück ins Wasser. Mein Herz hämmert in meiner Kehle. Ohne zu überlegen hole ich weit mit dem Paddel aus und lege alle Kraft, die ich mobilisieren kann, in meinen Schlag. Das Paddel trifft ihn am Hinterkopf. Wieder hole ich aus. Schlage noch fester zu.
    Hugo taumelt vornüber ins Wasser. Reglos bleibt er liegen, halb treibend, mit dem Gesicht nach unten, die Arme ausgebreitet.
    Ich eile zurück ans Ufer, mit dem Paddel in der Hand durch den Schlamm watend.
    Einer der Windhunde kläfft sein lebloses Herrchen an, schrill und hoch, wie eine bizarre Sirene. Der andere Hund steht schweigend daneben, mit angelegten Ohren. Nervös trippelt er hin und her.
    Beide wedeln, als ich aus dem Wasser steige. Nur ihre Schwanzspitzen wackeln zwischen den Hinterbeinen hin und her. Ich stolpere zurück zum Baum, werfe das Paddel weg, lasse mich gegen die feuchte Rinde sinken und klammere mich daran fest.
    Die Zeit scheint sich zu verdichten. Das Blut fließt langsamer durch meinen Körper, wie Sirup. Wie im Rausch drehe ich mich zu Hugo um,

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