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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Nachmittag aufgehört habe. Die Akte, die ich angelegt habe, ist inzwischen schon ziemlich dick.
    Stunden vergehen. Immer wieder verschwimmen Schrift und Fotos vor meinen Augen. Trauer lässt sich nicht unterdrücken, das habe ich inzwischen gelernt. Sie ist immer da, unablässig. Manchmal in Gestalt eines leicht ziehenden, chronischen Schmerzes, den man leicht vergessen kann, dann wieder wie eine frische, offene Wunde in den tiefsten Schichten der Seele, die kein Pflaster verschließen und kein Schmerzmittel betäuben kann.
    Mit dem Ärmel wische ich mir die Tränen weg.
    Ich bleibe die ganze Nacht auf, während der Regen auf das Dachfenster trommelt. Wie eine Statue sitze ich auf dem Bett, in einen Kokon von bläulichem Licht gehüllt, das Glas in Reichweite. Meine Finger hämmern auf die Tastatur, meine Augen huschen hin und her.
    Ich werde so von meiner Suche beansprucht, dass ich erst am nächsten Morgen feststelle, dass ich keinen Schluck von meiner Bacardi-Cola getrunken habe.

ZWEI TAGE SPÄTER

50
    »Bist du noch wach?«, frage ich Erwin.
    Wir liegen im Bett. Der Laptop auf dem Nachtschränkchen wirft einen schwachen Lichtschein auf uns. Sonst ist es stockdunkel. Erwin streichelt meinen Arm. »Was ist denn?«
    »In der Nacht, in der wir zum Krankenhaus gefahren sind – hast du da etwas von dem mitgehört, was Dianne mir erzählt hat?«
    »Ein bisschen, ja.«
    »Weißt du noch, was sie über den Mord gesagt hat?«
    »An dem Bauern?«, fragt er zurück.
    »Ja.«
    Erwin verlagert das Gewicht. »Sie hat gesagt, Hugo hätte sie gezwungen zu schießen. Er hätte ihr die Waffe in die Hand gelegt und abgedrückt. So ähnlich, oder?«
    »Ja, so ähnlich«, bestätige ich matt. Und dann vertraue ich ihm an, was ich bisher niemandem sonst erzählt habe. Weder meinen Eltern noch Diannes Mutter und schon gar nicht der französischen Polizei: »Ich glaube das nicht.«
    Er wälzt sich auf die Seite und stützt sich auf einem Ellbogen ab. »Du glaubst es nicht?«
    »Nein. Ich glaube, sie hat selbst geschossen, von sich aus abgedrückt. Aus freiem Willen.« Ich drehe mich zu Erwin um. Das Bett quietscht ein wenig. »Und ich glaube, ich verstehe auch, warum. Sie wollte dazugehören und Hugo zeigen, was sie sich traute, was sie konnte. Ich glaube, sie wollte ihn beeindrucken. Nur ist mir noch schleierhaft, warum sie mich belogen hat.«
    Erwin denkt einen Augenblick und sucht nach den richtigen Worten. Nach einiger Zeit sagt er plötzlich: »Sie hat sich geschämt.«
    »Sie hat sich geschämt? Erwin, ich war ihre beste Freundin, und sie lag im Sterben!«
    »Trotzdem.«
    Betreten starre ich ins Leere. »Glaubst du das wirklich?«
    »Sonst würde ich es nicht sagen. Und ich glaube, du weißt schon längst, wofür sie sich geschämt hat.«
    »Woher soll ich das wissen?«
    Erwin schaut an mir vorbei auf den Laptop, der summend auf dem Nachtschränkchen steht. Zärtlich streichelt er meine Hand und liebkost meine Finger. »Ich weiß, wie viel dir Dianne bedeutet hat und dass du sehr traurig bist. Ich will dir gerne helfen, so gut ich kann, aber manchmal denke ich … was weiß ich schon? Wir kennen uns erst seit dreieinhalb Monaten. Vielleicht irre ich mich. Ich möchte auf keinen Fall, dass du böse auf mich bist, das ist mir die Sache nicht wert.«
    »Ich kann schon einiges vertragen.«
    »Du kennst doch meine kleine Schwester, Hanneke. Zwar nicht so richtig, aber das kommt schon noch.«
    Ich habe seine Schwester, die Nachzüglerin der vier Kinder in Erwins Familie, nur einmal gesehen. Sie besucht die Abschlussklasse des Gymnasiums.
    »Hanneke findet alles, was ich mache, toll, und alles, was ich sage, gilt ihr als unumstößliche Wahrheit. Fast schon als Norm.« Erwin klingt gereizt. »Jahrelang hat sie mich quasi vergöttert. Ich habe es nicht einmal bemerkt, bis meine Mutter mich darauf aufmerksam gemacht hat. Sie nahm mich beiseite und bat mich, sorgfältiger mit dem Einfluss umzugehen, den ich auf Hanneke ausübte. Ich fand das geradezu lächerlich. Ich hatte keine Ahnung, welche Auswirkungen mein Reden und Handeln hatte. Keinen blassen Schimmer. Nach diesem Gespräch habe ich darauf geachtet, und erst dann ging mir ein Licht auf. Von da an verspürte ich diesen Druck. Die Last der Verantwortung.«
    »Druck? Inwiefern?«
    »Hanneke hat mich als Vorbild betrachtet, das tut sie bis heute. Sie verhält sich so, wie ich es ihr vorlebe. Das ist mir gewaltig auf die Nerven gegangen, das kann ich dir sagen. Ich habe diese Rolle

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