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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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gar nicht gewollt und weiß nicht, womit ich sie verdient habe.« Er umfasst meine Finger. »Aber dann passierte etwas Merkwürdiges. Ich begann, meine Vorbildfunktion wichtig zu nehmen. Aus irgendeinem Grund wollte ich meine kleine Schwester nicht enttäuschen. Ich wollte der ideale, besonnene, intelligente Bruder sein, den Hanneke offenbar in mir sah – zumindest wollte ich ihr gegenüber den Eindruck erwecken, so zu sein. Das ist anstrengend, und ich nehme an, dass es auch für Dianne nicht immer leicht war, dein Vorbild zu sein.«
    »Du erschießt aber niemanden, Erwin.«
    »Nein. Wahrhaftig nicht.«
    »Und ich heiße nicht Hanneke.«
    »Es geht um die Art der Beziehung. Eure Interaktion. Du hast dich doch gefragt, warum sie dich angelogen hat.«
    »Und du meintest, aus Scham.«
    Er lässt meine Hand los und streichelt über meinen Arm und meine Schulter. »Du hast sie idealisiert.«
    »Kann sein«, antworte ich leise. »Aber sie war wirklich etwas Besonderes.« In der Vergangenheit von ihr zu reden fällt mir schwer.
    »Das glaube ich gern. Trotzdem war sie vermutlich bei Weitem nicht so mutig, unabhängig und unerschütterlich, wie du gedacht hast.«
    »Wegen Hugo? Weil sie sich so stark von ihm beeinflussen ließ?«
    »Nicht nur. Sie war doch früher oft bei euch zu Hause, oder?«
    »Ständig. Sie gehörte zur Familie. Bis sie nach Frankreich zog, hat sie meine Eltern immer noch mindestens ein Mal pro Woche besucht.«
    Er richtet sich ein wenig auf und sieht mir in die Augen. Aus seinem Blick spricht Liebe, aber auch eine gewisse Nervosität, leichte Unsicherheit. Er küsst meine Finger. »Weil sie das brauchte. Genau wie du brauchte sie Halt, Bestätigung und Liebe, Menschen in ihrem Leben, die ihr als Vorbilder dienen und an denen sie sich messen konnte. Verstehst du? Bestimmt siehst du das im Nachhinein auch so.«
    Natürlich sehe ich das so. Erwin erzählt mir nichts Neues, sondern bestätigt nur, was ich schon seit einer Weile vermutet habe. Nein, was ich wusste. Natürlich habe ich es gewusst.
    Ich habe nur meine Augen davor verschlossen.
    »Sie hat schlimme Fehler begangen«, fährt Erwin fort, »und sie zutiefst bereut. Sie hat dir in Bezug auf ihre Beziehung mit diesem Hugo und ihre Beweggründe für den Umzug nach Frankreich ins Gesicht gelogen. Sie war durchgeknallt, hatte vollständig den Boden unter den Füßen verloren. Doch dieses Bild der fehlerlosen, kraftvollen, umwerfenden Frau, dieses unrealistische Zerrbild, das du von ihr hattest, wollte sie nicht zerstören. Um sich zu schützen, vor allem aber auch dich. Sogar noch kurz vor ihrem Tod.«
    Jetzt ist alles gesagt, denke ich.
    Von allen Seiten betrachtet.
    Zergliedert.
    Ich habe Dianne auf einen Sockel gestellt, und sie ist abgestürzt. Rumms: Mit einem Schlag ist das Götzenbild, das ich mir von ihr gemacht hatte, auseinandergebrochen, in tausend scharfkantige, unregelmäßige Stücke.
    Im Licht der Ereignisse kann ich ihre heftige Leidenschaft und ihren Fanatismus nicht mehr bewundern, sondern nur noch bedauern. Ich bedaure sie, ich bedaure das französische Ehepaar, das nicht mehr ist. Die beiden Kinder, die keine Eltern mehr haben. Diannes Eltern, die keine Tochter mehr haben. Meine Eltern, für die es ein genauso großer Verlust ist.
    Mich. Weil auch ich sie verloren habe.
    Aber habe ich sie nicht schon vor langer Zeit verloren?
    »Danke für deine Ehrlichkeit, Erwin«, sage ich leise. »Ich bin wirklich froh darüber.« Ich löse mich aus seiner Umarmung und hole ein Papiertaschentuch aus der Nachttischschublade. Schnäuze mir die Nase und tupfe mir die Augen trocken.
    »… aber so genau will ich es gar nicht wissen«, füge ich flüsternd hinzu. Neue Tränen fließen.
    Er zieht mich in seine Arme. »Das verstehe ich«, brummt er. »Scht.«
    Ich lege meine Wange an seine Brust und fühle seinen Herzschlag durch den Stoff seines T-Shirts. »Ich liebe dich«, flüstere ich.
    »Ich dich auch, Schatz. Sehr sogar.«

51
    »Ich wollte es Ihnen lieber persönlich mitteilen, bevor Sie es auf andere Weise erfahren.« Die Stimme Gérard Godins klingt müde, als hätte er einen langen, anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Dabei ist es erst neun Uhr morgens.
    Ich bin noch im Bademantel, und meine zweite Tasse Kaffee steht vor mir auf dem Wohnzimmertisch. Erwin ist vor zwei Stunden gefahren, um rechtzeitig zu einer Sitzung in Zwolle zu kommen.
    » Qu’est-ce qui se passe?  – Was ist los?«, frage ich. Schnell regle ich mit der

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