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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Flure bis in den hinteren Teil der Intensivstation.
    Ich fühle mich wie im Aquarium eines Zoos: Die Krankenzimmer ähneln großen Fischbecken und sind durch gläserne Luftschleusen vom Flur getrennt. Ich achte nicht auf andere Kranke, sondern laufe sofort durch bis zu Diannes Zimmer, einem der letzten.
    Die Bank vor Diannes Zimmer ist verlassen.
    Erwin sollte hier sitzen. Er hat es mir versprochen.
    Ein Blick durch die Doppelscheibe genügt, um festzustellen, dass auch Dianne nicht mehr da ist. Das Bett ist weg. An den gelben Wänden stehen noch einige Apparate, aber es brennen keine Lämpchen, die Monitore sind ausgeschaltet, und die Kabel liegen aufgerollt auf den Maschinen.
    Niemand zu sehen.
    Ich kehre durch den langen Flur zurück und blicke dabei von rechts nach links, in der Hoffnung, Dianne in einem der Betten liegen zu sehen. Doch ich finde sie nicht. Alle fünf Patienten auf der Intensivstation sind Männer.
    Als ich das Schwesternzimmer der Station beinahe erreicht habe, kommt auf dem Flur eine Schwester auf mich zu. Sobald sie mich entdeckt, wird ihr Gesicht ernst.
    »Wo ist Madame Dianne van den Berg?« Ich merke kaum, wie abgehetzt ich klinge. »Heute Vormittag lag sie noch dort hinten.« Ich zeige in die Richtung, aus der ich gekommen bin.
    »Sind Sie die Schwester von Madame van den Berg?«
    Ich nicke ungeduldig.
    Sie senkt die Lider und blickt mich dann wieder an. Mit braunen, sanften Augen. »Bitte folgen Sie mir, Madame.«
    Ich laufe hinter ihr her. Der Weg kommt mir bekannt vor. Wir sind unterwegs zum Familienzimmer. Ganz kurz flackert ein Funke Hoffnung in mir auf, der jedoch sofort wieder von meinem Realitätssinn ausgelöscht wird. Dianne kann nicht jetzt schon entlassen worden sein. Es ist unmöglich, dass sie mich an Erwins Seite erwartet.
    Sie ist letzte Nacht sechs Stunden lang operiert worden.
    Sie ist todkrank.
    Lebensgefährlich verletzt.
    Die Krankenschwester weist mit einem Nicken zur Tür. »Ihr Freund wartet auf Sie. Ich gehe den Arzt holen.«
    Ich sehe es Erwins Gesicht an, dass er schlimme Nachrichten hat.
    Er legt eine Zeitschrift aus der Hand und steht vom Bett auf. Er kommt auf mich zu, zieht mich in seine Arme und drückt mich an sich. Dann legt er sein Kinn auf meinen Kopf und reibt mir über den Rücken. »Tut mir leid, Liebes. Es tut mir so leid.«
    »Wo ist sie? Wie …«
    »Sie konnten sie nicht retten.«

ZEHN TAGE SPÄTER

49
    Meine Eltern sitzen mir gegenüber am Küchentisch. In der Mitte zwischen uns steht ein dampfender Eintopf, ein »Hutspot« aus gestampften Möhren, Kartoffeln und Zwiebeln, und dazu eine Schüssel mit frischen, fettglänzenden Würsten. Die Fenster sind beschlagen, und die Stimmung erinnert mich an früher, als alles noch übersichtlich war und jeder seinen festen Platz im Leben hatte.
    »Ich musste von Dennis erfahren, dass du entlassen wurdest«, sagt mein Vater.
    »Tut mir leid, ich hätte es euch erzählen sollen. Aber momentan ist mir das nicht so wichtig.«
    »Das verstehe ich«, sagt meine Mutter.
    Eine Zeit lang widmen wir uns wortlos dem Essen. Messer und Gabeln schaben über die glasierten Teller. Ich nehme ein Glasschüsselchen voll Apfelmus mit gemahlenem Zimt vom Untersetzer, gebe die Hälfte des Inhalts auf meinen Teller und vermische das Mus mit meinem Eintopf.
    »Wie dem auch sei«, fährt mein Vater fort. »Mir wäre es lieber gewesen, du hättest uns gleich Bescheid gesagt.«
    Meine Mutter pflichtet ihm bei: »Ja, denn dann hätten wir dieses Käseblatt sofort abbestellt.«
    »Und einen Leserbrief geschrieben, in dem wir uns darüber beschwert hätten, dass die Qualität der Artikel in letzter Zeit stark nachgelassen hat.«
    Während ich meine Eltern im gelblichen Licht der Hängelampe betrachte, beide zutiefst empört, überkommt mich ein Gefühl großer Zuneigung. Bis vor Kurzem hielt ich es für ganz normal, dass diese beiden Menschen stets für mich da sind. Wie sollte es anders sein? Ich habe nicht einmal darüber nachgedacht.
    Nach Diannes Einäscherung sah ich die Situation plötzlich anders – realistischer. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass einen im Leben Menschen begleiten, die einen bedingungslos lieben, denen man rückhaltlos vertrauen kann und die einen unter allen Umständen unterstützen werden. Bedingungslose Liebe ist etwas ganz Besonderes, kostbar und herzzerreißend schön, was ich jedoch nie erkannt oder jedenfalls nicht genügend gewürdigt habe. Obwohl ich doch so viele schlechte Beispiele vor

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