Verflixter Kerl
Leuchtturm, an dessen Mauer er sie geküsst hatte, das italienische Restaurant, in dem er ihr beim Wein zärtliche Worte zugeflüstert hatte, die allesamt nur Lügen gewesen waren? Die Erinnerungen taten noch weh, und sie konnte es nicht fassen, dass sie sich wieder verliebt hatte, obwohl die Enttäuschung durch Oliver ständig vor ihren Augen war. Aber, so dachte sie, gerade das müsste sie doch eigentlich stark machen, um sich gegen eine neue Liebe zu wehren, die sie ja doch nur wieder verletzen würde.
Aber konnte Silke sich überhaupt wehren? Wenn sie das ernstlich wollte, müsste sie sofort abreisen. Andererseits musste Matthias ihn wiedersehen, sonst hätte sie für den Rest ihres Lebens das Gefühl, ihre große Chance verpasst zu haben.
Chance. Sie schnaubte verächtlich. Wahrscheinlich war es nicht einmal eine Chance. Sie wusste ja nicht, worauf sie sich einließ. Was wusste sie schon über diesen Matthias? Nicht einmal seinen Nachnamen. Und ihren hatte sie ihm aus Vorsicht auch nicht genannt. Er behauptete, Schriftsteller zu sein. Das konnte jeder von sich sagen, der mit siebzehn ein Gedicht in der Schülerzeitung veröffentlicht hatte oder sogar nur für die Schublade schrieb. Andererseits hatte er zugegeben, dass er nicht viel verdiente und auf ein Stipendium angewiesen war. Das klang schon irgendwie ehrlich.
Silke wusste nicht mehr, was sie tun und denken sollte. Sie wollte ihn nicht sehen, wollte sich nicht völlig verlieren, wollte sich nicht verletzen lassen.
Am besten, sie lenkte sich ab. In ihrer Pension hatte ein kleiner Prospekt über Ausflugsfahrten auf dem Frühstückstisch gelegen. Es gab Inselrundfahrten mit sachkundiger Führung, ein Ausflug mit einem Fischkutter, eine Schiffsfahrt nach Helgoland – mit Spielcasino an Bord. Nein, das war nichts für sie. Aber die Tagesfahrt nach Tondern mit Besuch in Seebüll, dem Wohnhaus von Emil Nolde, das wäre doch das richtige für sie. Kunst interessierte sie eigentlich sehr, und zu Hause hatte sie sogar einen schönen Druck von Nolde mit knallig roten Mohnblüten in der Diele hängen. Sie rief das kleine Reisebüro am Hafen an und erfuhr, dass tatsächlich noch Platz war. Sie sollte mit der Fähre um sechs Uhr zwanzig vom Wyker Hafen abfahren, das ließ sich wegen des Wechsels von Ebbe und Flut nicht anders einrichten. Fünfundvierzig Minuten später käme die Fähre in Dagebüll an, wo dann ein Bus mit der Aufschrift "Fehringer Tours" bereit stünde.
Es ging am Morgen ein richtig kalter Wind. Silke war froh, dass sie ihren gefütterten Anorak mitgenommen hatte. Als Hamburgerin kannte sie schließlich die wechselnden Wetterverhältnisse an der See und wusste, wenn es am Morgen so kalt war, bestand trotzdem noch die Möglichkeit, dass es ein sonniger Tag würde. Dann konnte sie den Anorak immer noch im Bus liegen lassen, wenn Zeit für Spaziergänge war.
Silke hatte es eilig, unter Deck zu kommen. Das Café dort hatte schon geöffnet, und sie war dankbar, heißen Kaffee zu bekommen und ein Croissant, das sie eintunken konnte. Zum Glück war sie früh genug gekommen, um einen Platz an einem der Panorama-Fenster zu ergattern. Jetzt drängelten sich die Leute draußen am Kai, und Silke starrte in die Menge der Touristen, die hoffentlich nicht allesamt mit dem gleichen Bus fahren wollten. Aber sicher waren auch etliche Einheimische dabei, die in Dagebüll oder einem der anderen Dörfer auf dem Festland etwas zu erledigen hatten. Einer nach dem anderen betrat die Gangway, die eine Etage höher nicht weit von Silkes Platz an Deck führte, so dass Silke nur noch die Beine sah, wenn die Passagiere an Bord gingen.
Plötzlich ging ein Ruck durch sie, als sie ein bekanntes Gesicht entdeckte. Matthias! Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn so bald wiederzusehen.
Silke Schönbohm wollte schon an die Scheibe klopfen, um sich bemerkbar zu machen und ihm per Handzeichen zu verstehen zu geben, dass sie ihm einen Platz frei halten wollte, aber da entdeckte sie, dass er nicht allein war. Neben Matthias ging ein kleines Mädchen von etwa acht Jahren, das beim Reden immer wieder eifrig zu ihm aufschaute, und jetzt lachten die beiden. Sie waren sich so ähnlich, dass die Kleine auf jeden Fall seine Tochter sein musste.
Ein Kind! Er hatte eine so große Tochter und hatte kein Wort darüber verloren! Wahrscheinlich war dann die Ehefrau auch nicht weit. Silke starrte auf die Gruppe von Leuten, die sich noch vor der Gangway drängten, wo ein Mann der Besatzung die
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