Verflixtes Blau!
sollen. Sie wollte wirklich nur ungern in einer wartenden Kutsche eine Leiche zurücklassen und später selbst die Zügel in die Hand nehmen müssen, was zweifellos Aufmerksamkeit erregen würde.
Ja, für eine Frau war das Leben in Paris schwer, und schwerer noch, wenn man mehrere Frauen war. Sie seufzte einen existentialistischen Seufzer, der fünfzig Jahre später in Paris der letzte Schrei werden sollte.
» Die eine Hälfte jetzt«, sagte sie und händigte ihm eine Zehn-Francs-Note aus. » Die andere Hälfte, wenn Sie mich wieder zurück zum Boulevard Saint-Germain bringen. Und jetzt warten Sie um die Ecke auf mich.«
Der Kutscher schnaubte spöttisch und ließ die Kutsche stehen, wo sie war.
» Gut«, sagte sie. Der Schwachkopf war zu blöd, um Angst zu haben. Sie würde es ihm schon zeigen.
Sie marschierte auf die doppelten Eichentüren des Le Mirliton zu und trat dagegen. Der Plan, das Bild, das sie im Kopf gehabt hatte, war gewesen, die Tür um die Schlösser herum zu zersplittern und aufzusprengen, denn trotz der geringen Größe ihres momentanen Körpers war sie sehr, sehr stark. Tatsächlich gab die Tür, die von innen mit einer Kette verriegelt war, ein wenig nach, gerade so viel, dass sie den Aufprall ihres Trittes abfing und Bleu auf dem Hintern landete, mitten auf dem Bürgersteig, während die Tür mehr oder weniger unversehrt blieb.
Der Droschkenkutscher lachte. Sie sprang auf und knurrte ihn an.
» Vielleicht solltest du einfach anklopfen«, sagte der Kutscher. » Ich warte um die Ecke auf dich.« Er knallte mit den Zügeln, und das Pferd trottete klappernd einen halben Block entlang und bog in eine enge Seitenstraße.
Über der Doppeltür stand ein Oberlicht einen Spalt weit offen. Sie sah es sich genauer an, dann hüpfte sie an der rechten Tür hinauf, suchte mit den Füßen an den Scharnieren Halt, klappte das Oberlicht auf und schlüpfte mit dem Kopf zuerst hinein, schlug in der Luft einen Purzelbaum und landete wie eine Katze auf den Füßen, wenn auch mit dem Rock über dem Kopf.
» Oh, là, là!« Eine männliche Stimme irgendwo im Dunkel.
Sie rang ihren Rock nieder und merkte, dass ihr Inselmädchen kein Höschen trug und sie gerade dem gesamten Cabaret ihren exotischen Popo mit allem Drum und Dran vorgeführt hatte. Das Kind war ein wahres Unschuldslamm.
» Das kann ja wohl nicht wahr sein«, sagte sie zu dem Barmann, der auf dem Boden hinter dem Tresen geschlafen hatte und aufgewacht war, als sie gegen die Tür trat. Wie eine überraschte Puppe war er aufgetaucht und hatte gerade noch gesehen, wie sie sans culottes landete.
Er war jung, und selbst im Dunkeln konnte sie erkennen, dass er schlank und hübsch war, mit blondem Haarschopf, der ihm über das eine Auge fiel, und einer roten Weste, mit der er wie ein verwegener, wenn auch ein wenig verschlafener Bandit aussah.
» Bonsoir«, sagte sie, um nicht unhöflich zu wirken. In null Komma nichts war sie hinterm Tresen. Sie streckte sich und küsste den verblüfften Barmann keusch auf die Lippen, nur ganz flüchtig, dann griff sie sich eine Flasche aus dem Regal und schlug sie ihm dreimal an den Kopf. Wundersamerweise zerbrach die Flasche nicht. Der Barmann war jedoch bewusstlos und blutete an zwei Stellen. Mit Zauber und Verführung ließ sich mancher leicht überreden, doch bei knapp bemessenem Zeitrahmen mochte eine kurzfristige, spontane Gehirnerschütterung den Zwecken eines Mädchens eher dienlich sein.
» Tut mir leid«, sagte sie. » Ein Versehen. Ließ sich nicht vermeiden.« Kein Wunder, dass der Farbenmann es dauernd sagte. Sie kam sich schon gar nicht mehr so schäbig vor, den Barmann niedergeschlagen zu haben, der eigentlich nichts weiter getan hatte, als ihren Mangel an Unaussprechlichem zu kommentieren. Sie bückte sich und küsste ihn auf die Wange, dann sprang sie auf den Tresen, um den Blauen Akt zu inspizieren.
Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie gerade eben die Farbe am Rand betasten. Noch immer klebrig, selbst nach Wochen. Der verfluchte Lucien verwendete ein Leinölkonzentrat, gestreckt mit Nelkenöl als Medium– es würde Monate dauern, bis die Farbe vollständig getrocknet war. Sie konnte die Leinwand nicht aus dem Rahmen schneiden und aufrollen. Sie würde das ganze, gottverdammte Riesending mitnehmen müssen.
Auf einem Stuhl balancierend, der auf dem Tresen stand, konnte sie das Bild abhängen, ohne die Farbe zu beschädigen. Den Schlüssel für die Kette an der Tür fand sie in
Weitere Kostenlose Bücher