Verflixtes Blau!
der Tasche des Barmanns, und keine fünf Minuten nachdem sie der Droschke entstiegen war, stand sie mit dem Gemälde draußen auf dem Gehweg.
Der Blaue Akt war fast so breit, wie sie selbst groß war, und die einzige Möglichkeit, ihn zu transportieren, bestand darin, die Fingerspitzen innen hinter den Rahmen zu haken und die Hände hoch über den Kopf zu heben, während sie seitwärts den Bürgersteig entlanglief. Diesen schrägen Walzer führte sie einen halben Block weit auf, bis sie zu der Ecke kam, an der die Kutsche abgebogen war, und dort eine Straße vorfand, in der weit und breit kein Mensch zu sehen war, von einer wartenden Droschke ganz zu schweigen. Der schmierige Kutscher hatte sie mitten in der Nacht einfach ihrem Schicksal überlassen und ihr die Möglichkeit genommen, das Bild nach Hause zu bringen.
» Na toll«, sagte sie. Jetzt musste sie sich etwas anderes einfallen lassen, um den Farbenmann von Lucien abzulenken.
21
Eine plötzliche Erkrankung
L ucien war außer Atem.
Die Hure sagte: » Oh, Monsieur Lessard, ich habe Ihr Gemälde im La Mirliton gesehen. Es ist wunderschön.«
Lucien stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und schnappte nach Luft. Alle drei Huren im Salon des Bordells warteten darauf, dass er etwas sagte. Er war gerannt, den ganzen Weg von Bruants Cabaret hierher. Dort hatte die Tür sperrangelweit offen gestanden, der Barmann lag bewusstlos am Boden und der Blaue Akt war weg.
» Toulouse-Lautrec?«, keuchte er.
» Die Treppe rauf. Viertes Zimmer«, sagte eine große, blonde Hure im pinkfarbenen Negligé. » Ihr Brot ist wirklich gut, aber ich finde, Sie sollten sich aufs Malen konzentrieren.«
Lucien bedankte sich nickend für den Rat und tippte zum Gruß an seinen Hut, bevor er die geschwungene Treppe hinaufstürmte.
Die vierte Tür war abgeschlossen, also klopfte er an. » Henri! Ich bin’s, Lucien. Der Blaue Akt. Er ist weg.«
Ein rhythmisches Japsen, von quietschenden Bettfedern kontrapunktiert, war hinter der Tür zu hören.
» Moment noch, Lucien«, rief Henri. » Ich poppe Babette, und wenn sie kommt, kriege ich Rabatt.«
Das Japsen und Quietschen brach ab. » Kriegt er nicht.«
» Sie macht nur Spaß. Meine Apanage für diesen Monat ist noch nicht eingetroffen, also bin ich etwas…«
» Er steckt in Schwulitäten!« Die Hure kicherte.
» Na warte, die Rache ist mein.«
» Könntet ihr zwei vielleicht mal stillhalten?«
» Spüre meinen Zorn, Dirne!«
Weiteres Quietschen, weiteres Kichern. Es hörte sich an, als hätte er da drinnen nicht nur eine Frau.
Lucien befürchtete, in Ohnmacht zu fallen, und zwar vor Sorge, nicht etwa vor Atemnot, wenngleich der Puls in seinen Schläfen hämmerte. Er drückte seine Stirn an die Tür. » Henri, bitte! Jemand hat mein Bild gestohlen! Wir müssen…«
Die Tür wurde aufgerissen, und Lucien stolperte ins Zimmer.
» Bonjour, Monsieur Lessard«, sagte Mireille, die kleine, plumpe Hure, die Lucien bei seinem letzten Besuch angetroffen hatte. Sie beugte sich über ihn, nackt– bis auf eine viel zu große Baskenmütze. Hier und da war sie mit Ölfarben bemalt und schwenkte einen breiten Borstenpinsel mit Neapelgelb, von dem einiges den Weg zu ihren Nippeln gefunden hatte.
» Runter von mir, du geiler Bock«, sagte die Stimme einer anderen Frau vom Bett her.
Bevor Lucien aufblicken konnte, tat es einen dumpfen Schlag, und Graf Henri Raymond Marie de Toulouse-Lautrec-Monfa lag vor ihm auf dem Boden, mehr oder weniger unbekleidet, bis auf seinen Hut und sein pince-nez natürlich. (Schließlich war er ein Graf und kein kannibalischer Pygmäe, verdammt noch mal!)
» Lucien, du siehst bedrückt aus.«
» Ich bin bedrückt. Irgendjemand hat den Blauen Akt aus dem La Mirliton mitgenommen.«
» Und du bist sicher, dass das Bild nicht bei Bruant ist? Vielleicht hat er es zu einer Privatausstellung mitgenommen. Immerhin hat es einiges Aufsehen erregt. Ich habe gehört, dass Degas höchstpersönlich Interesse zeigte.«
Lucien stöhnte auf.
» Ich weiß genau, wie Ihnen zumute ist«, sagte Mireille. » Mein Gemälde ist ruiniert.«
Lucien drehte seinen Kopf gerade so weit, dass er sie an einer Staffelei stehen sah, auf der eine Leinwand stand, bemalt mit primitiven Gestalten, die für Lucien wie ringende Hunde aussahen. Wieder stöhnte er auf.
» Ach herrje.« Das Gesicht einer Frau– einer niedlichen Brünetten mit unfassbar großen, braunen Augen– kam hinter dem Rand des Bettes hervor. Sie blickte auf
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