Verflixtes Blau!
obwohl sie gelegentlich nackt in seine Träume trat und er dann mit schmerzenden Lenden erwachte, zitternd vom nächtlichen Albdruck– denn stets lauerte die dunkle Gestalt hinter ihr. Ihre Gesichtszüge waren deutlich zu erkennen und– da war er sicher– symbolisch seiner Phantasie entnommen. Er hatte dieses Mädchen noch nie zuvor gesehen, und doch war ihm das Gesicht ebenso deutlich vor Augen wie das seiner Frau, Mette, die er vor Jahren zusammen mit den vier Kindern in ihrem heimatlichen Kopenhagen zurückgelassen hatte. Er hätte sie aus dem Gedächtnis malen können.
Er stand auf und durchquerte im Mondlicht, das durchs Fenster fiel, das Zimmer. Er merkte, dass es spät sein musste. Die Gaslaternen draußen auf der Straße brannten nicht mehr, und er hörte weder das Orchester noch die Gäste des Folies Bergère einen Block entfernt. Ein Glas Wasser nur– vielleicht wären ihm dann ein paar Stunden traumloser Schlaf vergönnt, bevor er auf den Montmartre stieg, um nachzufragen, ob Theo van Gogh eines seiner Bilder verkauft hatte… ob es in dieser Woche Geld für Tabak und Ölfarben geben würde.
In der kleinen Küchenzeile, im Grunde nur eine Herdstelle und eine Spüle, schenkte er sich aus einem Porzellankrug ein Glas Wasser ein, trank es aus, und als er das Glas abstellte, fiel ihm auf, dass er die Tür zum Hausflur hatte offen lassen. Er war nachlässig geworden, entweder weil die Concierge des Gebäudes ihre Augen und Ohren überall hatte, oder weil er nichts mehr besaß, was man stehlen konnte– es war egal. Er zog die Tür ins Schloss und kehrte fröstelnd zu seinem Bett zurück– Schweiß, der in der Herbstluft trocknete.
Ein Schritt zum Bett hin, und da sah er sie, erst nur ihr dunkles Gesicht und die Arme auf den weißen Laken– nur das Funkeln in ihren Augen wie ferne Sterne. Sie schlug die dünne Decke zurück, lud ihn ein, und ihr dunkler Leib lag ausgebreitet im Mondschein auf dem Bett– ein vertrauter Schatten, der eine Sehnsucht in seinen Lenden weckte und einen grellen Blitz der Furcht an seinem Rückgrat hinaufschickte.
» Monsieur Paul«, sagte Bleu, » kommt ins Bett.«
Sie aßen Croissants mit Würstchen in der Toten Ratte, als für Henri die Welt schmerzhaft und unbarmherzig wieder an Schärfe gewann. Er trug ein pince-nez mit dunklen Gläsern, das er für eben solchen Katerjammer hatte anfertigen lassen und mit dem er wie ein kleiner, trauriger Leichenbestatter aussah.
» Lucien, sosehr ich die Annehmlichkeit und Gesellschaft im Le Rat Mort genieße, scheint mir doch, dass unser Lieblingsrestaurant eine gewisse Übelkeit in mir erregt.«
» Vielleicht liegt es weniger an dem Restaurant als an den Umständen. Die letzten paar Male, die wir hier waren, hattest du immer gerade eine durchzechte Nacht im Bordell hinter dir.«
Lucien nahm seine demitasse mit dem Espresso und trank seinem Freund zu, der beim Klappern der Tassen zusammenzuckte.
» Aber ich mag Bordelle. Dort habe ich Freunde.«
» Das sind nicht deine Freunde.«
» Doch, das sind sie. Sie mögen mich so, wie ich bin.«
» Weil du sie bezahlst.«
» Nein, weil ich charmant bin. Außerdem bezahle ich alle meine Freunde.«
» Nein, tust du nicht. Mich bezahlst du nicht.«
» Ich werde dich zum Frühstück einladen. Das hier geht auf meine Kosten. Außerdem bezahle ich sie nur für den Sex, die Freundschaft ist kostenlos.«
» Hast du denn keine Angst vor der Syphilis?«
» Die Syphilis ist ein Ammenmärchen.«
» Von wegen. Du kriegst einen Schanker an deinem Gemächt, und später wirst du irre, deine Körperteile fallen ab, und du stirbst. Manet ist an Syphilis gestorben.«
» Unsinn. Syphilis ist ein Mythos. Er ist Grieche, glaube ich– jeder kennt den Mythos von Syphilis.«
» Du meinst den Mythos von Sisyphus. Er verbringt sein ganzes Leben damit, einen großen Stein einen Hügel hinaufzurollen.«
» Mit dem Penis? Kein Wunder, dass er einen Schanker hat!«
» Nein, die Geschichte geht anders.«
» Das sagst du. Soll ich noch mehr Kaffee bestellen?«
Sie hatten sich eine Ecke im hinteren Teil des Restaurants gesucht, weit weg von den Fenstern, wegen Henris selbst verschuldeter Lichtempfindlichkeit, doch jetzt entstand vorn ein Tumult. Ein großer Mann mit rotem Gesicht, langer Hakennase und schwarzem Schnauzer in der langen, bestickten Jacke eines Bretonen hatte das Restaurant betreten, ging von Tisch zu Tisch und gab eine Neuigkeit zum Besten, die den Gästen Sorge bereitete. Einige der Damen
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