Verflixtes Blau!
Wir schließen sie so weit, dass sie nur direkt vor unsere Füße leuchtet, damit wir nicht stolpern. Wir richten sie auf den Boden.« Lucien hielt ein Streichholz an den Docht, und als dieser brannte, regulierte er die Flamme so, dass sie kaum zu sehen war.
» Und woher wissen wir, wohin er geht?«
» Ich weiß es nicht, Henri. Wir halten nach seiner Laterne Ausschau. Vielleicht gibt der Esel einen Laut. Was weiß ich denn?«
» Du bist doch der Experte. Der Rattenfänger.«
» Ich bin kein Experte. Ich war damals sieben Jahre alt gewesen und habe mich gerade so weit in die Mine gewagt, dass ich meine Fallen aufstellen konnte, weiter nicht.«
» Und doch hast du Berthe Morisot nackt und blau gesehen. Wenn du kein Experte bist, so hast du doch unverschämtes Glück.«
Lucien nahm die Laterne und schob das Tor auf. » Vielleicht sollten wir lieber den Mund halten. Geräusche übertragen sich hier unten sehr weit.«
Der Durchgang, in dem sich das Eisentor befand, war niedriger als der Rest des Gewölbes, und Lucien musste sich bücken, um hindurchzupassen. Henri spazierte geradewegs hinein, bis die Staffelei, die er auf seinem Rücken trug, am Durchgang hängen blieb und ihn beinah von den Beinen riss.
» Vielleicht sollten wir die Staffelei hierlassen und nur die Flinte mitnehmen.«
» Gute Idee«, sagte Henri. Er zog die Flinte aus dem Leinwandköcher, dann stellte er die Tasche und die Staffelei neben das Tor ins Dunkel.
» Mit offenem Verschluss«, sagte Lucien, weil er fürchtete, wenn Henri stolperte, könnte die Waffe losgehen und sie den Kopf oder ein anderes lieb gewonnenes Körperteil kosten.
Henri entriegelte den Verschluss des Schrotgewehrs und legte zwei Patronen ein, die er in der Tasche gehabt hatte, dann hielt er inne.
Lucien ließ den haarfeinen Lichtstrahl über das Gesicht seines Freundes gleiten. » Was?«
» Wir gehen in diesen Tunnel, um einen Menschen zu töten.«
Lucien hatte versucht, nicht an die konkrete Tat zu denken. Er hatte versucht, die Gewalt abstrakt zu halten, sie zu idealisieren, als gute Tat, so wie sein Vater ihn dabei unterstützt hatte, die Ratten zu töten, wenn er als kleiner Junge notleidende Nager zappelnd in seiner Falle gefunden hatte. » Es ist ein Gnadenakt, Lucien. Es geschieht, um die Pariser vor dem Hungertod zu retten, Lucien. Es geschieht, um Frankreich vor der Tyrannei der Preußen zu schützen, Lucien.« Und einmal, als Père Lessard ein zweites Glas Wein zum Mittag getrunken hatte: » Es ist nur eine beschissene Ratte, Lucien. Sie ist ekelhaft, und wir machen sie schmackhaft. Jetzt schlag sie mit dem Knüppel tot, wir können Pasteten zubereiten.«
Lucien sagte: » Er hat Vincent ermordet, er hat Manet ermordet, er hält Juliette wie eine Sklavin: Er ist eine beschissene Ratte, Henri. Er ist ekelhaft, und wir machen ihn schmackhaft.«
» Bitte?«
» Schschscht. Guck mal, da ist ein Licht.«
Nach nur einer Minute jenseits der Gaslampen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt. In der Ferne sahen sie ein kleines Licht tanzen wie eine Motte am Fenster. Lucien hielt die Laterne so, dass Henri den Zeigefinger erkennen konnte, den sich sein Freund an die Lippen hielt, dann gab er ihm Zeichen, dass sie weitergehen sollten. Er richtete das Licht auf den Boden, sodass nicht einmal ihre Füße Schatten warfen. So folgten sie der Flamme in der Ferne. Henri watschelte regelrecht, um die schweren Schritte seines Hinkens zu dämpfen und den Umstand auszugleichen, dass er seinen Gehstock nicht dabeihatte.
Bisweilen verschwand die Flamme und ihnen blieb nur, irgendwo im Dunkeln einen kleinen Fleck zu suchen. Henri erinnerte sich, wie er als kleiner Junge abends die Augen geschlossen hatte und dann hinter seinen Lidern Bilder sah, die sich bewegten wie Gespenster. Keine Nachbilder, keine Erinnerungen, sondern etwas, das er tatsächlich in der absoluten Finsternis von Nacht und Kindheit sah.
Während sie leise über den glatten, staubigen Boden schlichen, fielen ihm diese Bilder wieder ein. Er erinnerte sich an das elektrisierende Blau, welches das Schwarz durchzüngelte, und manchmal kam ein Gesicht auf ihn zu, keine eingebildete Spukgestalt, nichts, was er heraufbeschworen hatte, sondern eine reale Figur aus Blau und Finsternis, die ihn in der endlosen Leere des Nichts attackierte. Da hatte er dann aufgeschrien. Damals– so viel wurde ihm nun in den Katakomben klar– hatte er das Sacré Bleu zum ersten Mal gesehen. Weder auf einem Gemälde noch in
Weitere Kostenlose Bücher