Verflixtes Blau!
Monsieur, aber man sagt mir, dies sei das Atelier des Malers Seurat. Ich bin Modell und suche Arbeit.«
Einen peinlichen Augenblick lang stand er nur da und sah sie an, skizzierte sie im Geiste, dann lächelte sie und riss ihn aus seiner Phantasie. » Es tut mir leid, Mademoiselle, aber ich habe alle Studien abgeschlossen, die ich für meine momentane Arbeit benötige. Vielleicht, wenn ich ein neues Werk beginne…«
» Bitte, Monsieur Seurat, man sagte mir, Ihr wäret der größte Maler von ganz Paris, und ich suche dringend Arbeit. Ich würde auch nackt posieren. Es macht mir nichts aus. Ich friere nicht und werde nie müde.«
Seurat vergaß gänzlich, was er hatte sagen wollen. » Aber, Mademoiselle…«
» Oh, ich bitte um Verzeihung, Monsieur«, sagte sie und reichte ihm die Hand. » Ich heiße Pünktchen.«
» Kommt herein«, sagte Seurat.
Als Lucien und der Professeur die crémerie der Madame Jacob betraten, saß Toulouse-Lautrec bereits an einem der drei hohen Tische, aß Camembert auf Brot und trank Espresso mit einem Sahnehäubchen. An seiner Seite, noch mit ihrem übertriebenen Bühnen-Make-up, saß eine dürre, übermüdete Jane Avril. Lucien war ihr noch nie begegnet, erkannte sie jedoch sogleich von Henris Zeichnungen und Plakaten.
» Lucien, Professeur, darf ich vorstellen: die großartige, die einzigartige, die wunderschöne Jane Avril! Jane, meine Freunde…«
» Enchanté«, sagte die Sängerin. Sie glitt von ihrem Hocker, hielt sich am Tisch fest, dann reichte sie Lucien und dem Professeur je eine Hand im eleganten Handschuh, über welchen diese sich verbeugten. Dann wandte sie sich Henri zu, hob seine Melone an und gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. » Und nun, mein Hündchen, da du jemanden hast, der auf dich aufpasst, gehe ich nach Hause.« Missbilligend sah sie Lucien an. » Er wollte mich nur gehen lassen, wenn ich ihn mitnehme. Was hätte ich denn mit ihm anfangen sollen?«
Lucien begleitete sie zur Tür und bot an, ihr eine Droschke zu besorgen, doch sie zog es vor, die lange Treppe zum Pigalle hinunterzustolpern, in der Hoffnung, die frische Morgenluft würde sie vielleicht so weit ausnüchtern, dass sie schlafen konnte.
Als Lucien sich wieder zu den beiden anderen gesellte, warf Henri einen Brotkanten auf seinen Teller. » Ich bin ein Verräter, Lucien. Ich schäme mich, dabei erwischt zu werden, wie ich mich am Brot eines Fremden gütlich tue. Ich könnte es dir nicht verdenken, wenn du mir den Rücken kehrst wie alle anderen auch. Carmen. Jane. Alle.«
Lucien gab Madame Jacob, die zwischen ihren Käsesorten stand, ein Zeichen, ihm und dem Professeur Kaffee zu bringen, und zuckte mit den Schultern. Vor einer Stunde erst war sie in der Bäckerei gewesen, also hatten sie die Liebenswürdigkeiten des Tages bereits ausgetauscht.
» Erstens, Henri: Du isst mein Brot. Seit fünfzig Jahren gibt es bei Madame Jacob Brot aus unserer Bäckerei, also bist du kein Verräter. Und zweitens hat Mademoiselle Avril dir nicht den Rücken gekehrt. Sie ist einfach nur nach Hause gegangen, nachdem sie dir die ganze Nacht beim Trinken zugesehen hat, und wenn es anders gelaufen wäre und sie dich mit nach Hause ins Bett genommen hätte, wärst du sowieso längst eingeschlafen oder würdest schmutzige Seemannslieder singen. Eure Melancholie ist fehl am Platze, Monsieur Toulouse-Lautrec.«
» Nun«, sagte Henri und nahm sein Brot wieder in die Hand. » Wenn das so ist, fühl ich mich schon besser. Wie geht es Ihnen, Professeur? Irgendwas Spannendes in Spanien?«
» Man hat eine neue Höhle entdeckt, im Süden, in Altamira. Die Zeichnungen an den Wänden könnten die ältesten sein, die je gefunden worden sind.«
» Woher weiß man das?«, fragte Lucien.
» Nun, das Interessante daran ist, dass mein Kollege und ich ein relatives Datum ermitteln konnten– relativ wegen der Farbe, die für die Malereien verwendet wurde. Es scheint, als enthielten die noch erhaltenen Abbildungen keinerlei Blau.«
» Das verstehe ich nicht«, sagte Lucien.
» Du musst wissen, dass mineralische Pigmente für Blau– Azurit, Kupferoxid und Lapislazuli– erst etwa dreitausend Jahre vor Christi Geburt aufkamen, bei den Ägyptern. Davor waren die blauen Pigmente, die man in Europa benutzte, allesamt organischer Natur, wie etwa Färberwaid, das durch Zerreiben und Gären der Blätter des gleichnamigen Busches gewonnen wird. Im Laufe der Jahre verfielen die Pigmente, schimmelten und wurden von Insekten gefressen, bis
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