Verflixtes Blau!
kein Rosa neben Rot, kein Lavendel neben Violett, sondern harte Kontraste in Größe und Farbe, Blau neben Gelb, Orange inmitten von Lila, Rot von Grün umrahmt. Lucien fiel auf, dass an der Rückseite des Hauses von jedem Fenster aus zu sehen war, wie die Farbenpracht der Natur förmlich explodierte. Diesen Garten hatte ein Maler für einen Maler entworfen, für jemanden, der Farben liebte.
Er trat aus diesem Blütenmeer in einen kühlen Hain von Weidenbäumen, und dort, bei den spiegelglatten Teichen, fand er Monet an seiner Staffelei. Lucien unternahm gar nicht erst den Versuch, sich heimlich anzuschleichen. Stattdessen schlurfte er hörbar über den Weg und räusperte sich, als er noch gut zwanzig Meter entfernt war. Monet blickte kurz unter der breiten Krempe seines Strohhutes hervor, dann machte er sich gleich wieder daran, Farbe aufzutragen. Ein fertiges Gemälde lehnte am Stamm einer nahen Weide.
» Nun, Lucien, was führt dich zu uns aufs Land?« Monet schien sich zu freuen und klang freundlich, doch er unterbrach seine Arbeit keine Sekunde. Lucien nahm es ihm nicht übel. Einmal, als Monet sein Frühstück im Grünen beim Wald von Fontainebleau gemalt hatte, für das ihm Frédéric Bazille und seine geliebte Camille Modell saßen, war Monet derart in seiner Arbeit aufgegangen, dass er die Sportler gar nicht bemerkte, die zum Training auf die Wiese kamen, und so hatte es ihn außerordentlich überrascht, als ein verirrter Diskus ihm den Knöchel zertrümmerte. Bazille hatte Monets Genesung gemalt, sein Bein im Streckverband.
» Ich suche ein Mädchen«, sagte Lucien.
» Dann sind diese Paris endgültig ausgegangen? Nun, die Mädchen aus der Normandie sind nicht die schlechtesten.«
Lucien sah sich an, wie der Meister die Farbe auftrug, das Weiß und Rosa der Seerosen, das Graugrün der Weiden, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelten, das gedämpfte Umbra und das Schieferblau des Himmels im Wasser. Monet arbeitete, als gäbe es nichts zu überlegen– sein Verstand war nur ein Werkzeug, das die Farbe vom Auge auf die Leinwand übertrug, wie bei einem Gerichtsstenografen, der einen Prozess aufzeichnete, wobei jedes Wort den Weg vom Ohr auf das Papier fand, ohne dass der Verstand wahrgenommen hatte, was im Gerichtssaal vorgefallen war. Monet übte sich darin, maschinengleich die Farben einzufangen. Mit dem Pinsel in der Hand war er kein Mensch mehr, kein Vater oder Gatte, sondern ein Instrument, das nur einem einzigen Zweck diente. Er war, wie er sich stets selbst vorstellte, der Maler Monet.
» Ein ganz bestimmtes Mädchen«, sagte Lucien, » und um sie finden zu können, muss ich Sie nach dem Blau fragen.«
» Dann hoffe ich, dass du ein paar Tage bleibst«, sagte Monet. » Ich werde Alice bitten, dir das Gästezimmer herzurichten.«
» Nicht nach Blau ganz allgemein. Ich meine das Blau, das Sie vom Farbenmann bekommen haben.«
Monet hörte auf zu malen. Lucien zweifelte keinen Moment daran, dass er wusste, welchen Farbenmann er meinte.
» Dann hast du seine Farben also benutzt?«
» Ja, habe ich.«
Da drehte sich Monet auf seinem Stuhl herum und schob die Krempe seines breiten Hutes hoch, damit er Lucien ansehen konnte. Sein langer, schwarzer Bart war grau durchschossen, doch in seinen blauen Augen brannte ein Feuer, als stünde er nackt vor irgendeiner Kommission. Lucien musste sich abwenden.
Monet sagte: » Ich habe dir doch gesagt, du sollst keine Farbe bei ihm kaufen.«
» Nein, haben Sie nicht. Bis gestern konnte ich mich nicht mal erinnern, Sie mit ihm gesehen zu haben.«
Monet nickte. » Das kommt beim Farbenmann vor. Erzähl mir mehr.«
Und so berichtete Lucien von Juliette und dem blauen Akt, von Henri und Carmen, von ihrem Gedächtnisverlust, von seiner Hypnotisierung durch den Professeur und dem Phantomregen auf ihren Schultern, vom Tode Vincent van Goghs und dem Brief an Henri, in dem Vincent geschrieben hatte, dass er sich vor dem Farbenmann fürchtete und nach Arles gegangen war, um ihm zu entkommen.
» Dann glaubst du also, dass er jetzt weg ist?«, fragte Monet.
» Er hat Juliette mitgenommen, und ich muss sie finden. Sie wissen es doch, nicht wahr? Als Sie den Bahnhof Saint-L azare gemalt haben, sechs Bilder in einer halben Stunde, wussten Sie es?«
» Keine halbe Stunde, Lucien, vier Stunden. Für mich waren es vier Stunden. Vielleicht mehr. Du weißt, wie die Zeit vergeht, wenn man malt.«
» Ich habe auf die Bahnhofsuhr gesehen.«
» Das Blau des Farbenmannes
Weitere Kostenlose Bücher